Falsch
oder im Straßengraben verendeten.
Natalja Fürstin Demidow fand Samuel Kronstein nach seinem Tod auf dem Sofa in seiner Wohnung. Sie war in den letzten Jahren seine Vertraute gewesen, die versucht hatte, ihm so viel wie möglich an Arbeit abzunehmen und seinen Traum zu verwirklichen – die Schule für Behinderte in der Villa Kronstein. In seinem Testament vermachte ihr der Edelsteinhändler seinen gesamten Besitz. Was sein Begräbnis betraf, so wünschte er sich eine bescheidene Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof und einen Grabstein mit kyrillischer Inschrift, die lautete: »Nur wer vergessen ist, ist wirklich tot.« Natalja und ihr Sohn waren die Einzigen, die dem einfachen Sarg folgten. Sie ließ das Kaddish lesen und wusste, dass nun ein Abschnitt ihres Lebens zu Ende war und ein neuer begann. Neun Jahre nach Kronstein starb ihr Sohn Alexej. Natalja ignorierte alle Regeln und ließ ihn im Grab Kronsteins bestatten. So hatte der Junggeselle doch noch einen Sohn, der ihn ewig begleiten würde. Sie führte die Schule umsichtig und mit einer unerschütterlichen Sorgfalt bis ins hohe Alter. Als sie an einem kalten Herbsttag des Jahres 1959 starb, hinterließ sie all ihr Hab und Gut der Stiftung Kronstein. Zu ihrem Begräbnis kamen Hunderte dankbarer Eltern mit ihren Kindern und verwandelten ihren letzten Weg in ein weißes Blumenmeer.
Pjotr Solowjov kam wohlbehalten aus der Schweiz zurück nach St. Petersburg. Er beteiligte sich auf der Seite der Bolschewiki am russischen Bürgerkrieg, überlebte die Kämpfe und zog sich nach der Gründung der Sowjetunion 1922 aufs Land in der Nähe von Jekatarinenburg zurück, wo er in einer Volksschule unterrichtete. Mit seinen mageren Ersparnissen und dem Erlös des Verkaufs des Diamanten von Samuel Kronstein baute er sich ein kleines Häuschen am Stadtrand von Jekatarinenburg, heiratete und bekam einen Sohn, Maxim Michajlowitsch Solowjov, der 1945 mit der Roten Armee in Wien einrücken und die Stadt befreien sollte. Doch das erlebte Pjotr Solowjov nicht mehr. Er starb im März 1937 bei einem Verkehrsunfall, als sein Motorrad von einem Lastwagen der Kolchose übersehen und er von den mächtigen Zwillingsrädern überrollt wurde. Sein Sohn Maxim Michajlowitsch Solowjov sprengte sich im Nachkriegs-Wien 1945 in die Luft … Aber auch das ist eine ganz andere Geschichte …
NACHWORT
Vor einigen Jahren habe ich einmal eine Geschichte darüber geschrieben, wie die Geschichten zu ihren Erzählern kommen. Sie schweben im Raum, rodeln übermütig über Dachkanten, klettern an Dachrinnen herunter, blicken neugierig durch offene Fenster und setzen sich unaufgefordert an Kaffeehaustische, um aufmerksam der Unterhaltung zu lauschen. Und dann, irgendwann, entscheiden sie sich, dass sie erzählt werden möchten. Aber sie sind wählerisch. Sie schauen sich um und suchen den Richtigen, bevor sie auf der Schulter ihres zukünftigen Erzählers landen und zu flüstern, zu raunen, zu kichern und zu weinen beginnen.
Dann bist du ihnen verfallen. Gnadenlos, kein Widerstand möglich.
Du entkommst ihnen nicht mehr, sie haben dich fest im Griff.
Das ist der Moment, an dem ich mich hinsetzen muss und mit dem Schreiben beginne.
Geschichten zu erzählen ist eine Leidenschaft, die mich bereits seit dem Beginn meiner journalistischen Laufbahn begleitet hat. Auch als ich mir meine ersten Sporen als junger Reporter bei der österreichischen Nachrichtenagentur APA verdiente und dort angesichts der (notwendigen) nüchternen und faktischen Berichterstattung für das Geschichtenerzählen wahrlich kein Platz war, gab es im Hintergrund immer dieses „Projekt Thriller“, das mir keine Ruhe ließ. Doch dann kamen sechs Jahre Fernsehen, danach eine Zeit der Reisen und der Beschäftigung mit ganz anderen Dingen. Man könnte es auch das Sammeln von Erfahrungen nennen ... oder: Leben.
Aber Geschichten haben eine Eigenheit: Sitzen sie erst einmal auf deiner Schulter, dann warten sie geduldig. Haben sie sich jemanden ausgesucht, der sie erzählen soll, dann sind sie starrköpfig ...
So vergingen die Jahre.
Ich begann eines Tages nebenbei an einem Buch zu schreiben, einfach so, als Fingerübung. Und es kam, wie es kommen musste: Wie bei vielen anderen Schriftstellern blieb das Projekt auf halbem Weg im Dickicht der alltäglichen Verpflichtungen hängen. Das Romanfragment verstaubte in einem Regal, machte mehrere Umzüge mit, übersiedelte nach Frankreich und wieder zurück, begleitete mich in die USA und
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