Falsche Opfer: Kriminalroman
eher ätherischen Verbindungsglieder der Seele und des Geistes schoss. Alles war Schmerz. Es gab nichts als diesen Schmerz, und der Schmerz war alles.
Alles außer einer kurzen, abrupten Erkenntnis: Ohne es zu wissen, musste er sich umgedreht haben.
Orpheus musste sich umgedreht und einen Blick über die Schulter geworfen haben.
Und Eurydice sank zurück in die schattige Tiefe des Hades.
Es war zehn Uhr sechsundzwanzig am Samstag, dem zehnten Juli.
Sie lag in einem lausigen Bett im Parterre eines Hotels in Skövde und begann ihr drittes einsames Wochenende. Sie fragte sich, wie lange sie noch durchhalten würde.
Hatte sie trotz allem falsch gedacht? Hatte die Natter sich doch nicht hinausbegeben in die Provinz und das Geld in einem ländlichen Bankfach verstaut? Fehlte etwas in ihren Berechnungen? War da nichts, woran sie sich erinnern sollte – was in die Berechnungen eingehen sollte? Etwas, das sie blockierte?
Sie überlegte. Das war immer ihr einziger Verteidigungsmechanismus gewesen. Und sie spürte in diesem Augenblick – als das Wochenende kam und gleichsam die Überaktivität des Alltags ertränkte –, dass ihr Gedanke sich ein kleines Stück der Wahrheit annäherte.
Ein Faktor fehlte in den Berechnungen.
Onkel Jubbe? War da nicht mehr?
Sollte sie nicht wissen, wo sich dieses Bankfach befand?
Soweit von des Gedankens Blässe angekränkelt...
Er war hell, sie war dunkel, und sie vermisste ihn. Das war das einzige, was glasklar war. Es war das einzige Unbezweifelbare im Leben. Das einzig Reine, absolut Unbefleckte.
Es war nicht möglich, jetzt noch länger voneinander getrennt zu sein.
Sie drückte das lausige Kissen, bis die Federn herausquollen und im Zimmer umherzusegeln begannen. Ihr Blick fiel auf den kleinen Digitalwecker. Er sprang gerade auf 10.31 um.
Da kam der Stoß.
Die Tür ging auf. Sie hatte sie nicht mal abgeschlossen.
Drei Männer mit Gesichtsmasken, zwei davon schwarz und eine in Goldfarbe, traten breitbeinig durch die Tür und schlossen sie hinter sich. Ein vierter Mann kletterte durch die Tür herein, die auf den kleinen Altan nach draußen führte. Alle vier hielten Pistolen in der Hand, und alle vier trieften vor Nässe.
Sie gefror zu Eis.
»Verdammt regnerisch«, sagte der Goldgekrönte und richtete seine Pistole auf sie.
Sie starrte in ein Paar eisblaue Augen. Das war alles, was durch den Goldvorhang zu sehen war.
Sie konnte nicht atmen. Es ging nicht. Sie bekam keine Luft.
»Okay«, fuhr der Mann fort. »Atme jetzt schön ruhig. Du kannst zufrieden sein. Du hast es geschafft, dich zwei Wochen zu verstecken. Das ist gar nicht schlecht, wenn man an den Widerstand denkt. Bist du übrigens allein?«
Sie bekam immer noch keine Luft. Sie fühlte, dass sie blau wurde. Und inmitten des Grauens, mitten in all dem, dachte sie. Die Verteidigungsstrategie. Sie dachte: Ich habe dies schon einmal gefühlt, es hat schon früher in meinem Leben Gelegenheiten gegeben, bei denen ich keine Luft kriegen konnte.
Der Mann mit der Goldmaske trat auf sie zu und gab ihr eine kräftige Ohrfeige. Sie konnte wieder atmen. Jeder Atemzug tat weh. Sie war woanders. Auf dem Weg in einen anderen Raum.
»Bist du allein?« fragte der Mann. Die drei anderen standen gleichsam in Habtachtstellung hinter ihm. Einer von ihnen schien verletzt zu sein. Sie hatte sie schon einmal gesehen. In derselben Kleidung. Sie hatte gesehen, wie der Verletzte verletzt wurde. Und vier andere erschossen wurden. Aus dem Blut des einen war ein Aktenkoffer aufgehoben worden.
Der goldgekrönte Mann mit der verbindlichen Art schaltete um. Abrupt. Er schlug sie noch einmal. Härter. Schrie: »Antworte, du Scheißkanakenhure!«
»Ich bin allein«, sagte sie schwach. Sie spürte, wie sie zu entschwinden begann. Allmähliches Dahinsterben. Als sänke sie zurück ins Totenreich. In die schattige Tiefe des Hades.
Da änderte der Mann wieder den Tonfall. »Danke«, sagte er höflich. »Um den Koffer zu finden, brauchen wir allerdings keine Hilfe.«
Er wandte sich mit einer kaum merklichen Geste an den kleinsten der Männer. Er trug Kopfhörer über der Mützenmaske und hielt einen kleinen Apparat in der Hand. Er ging zum Kleiderschrank, hob drei Wolldecken zur Seite und zog den Aktenkoffer heraus. Dann reichte er ihn dem Goldgekrönten.
Der öffnete ihn und nickte. »Das Radio und der Schlüssel«, bekräftigte er. »Ausgezeichnet. Und jetzt erzähle alles, was du von dieser Sache weißt. Zu aller erst: Wer bist du?«
Der
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