Falsche Opfer: Kriminalroman
konnte gehen, ohne dass wir den geringsten Verdacht schöpften. Scheiße, wie schlampig.«
»Nun hör aber auf«, sagte Hultin etwas unerwartet. »Ihr hattet keinen Anhaltspunkt. Ihr habt einen Mann gesucht, der mit dem Bierkrug einen Schädel zerschmettert hat. Ihr seid verdammt weit gekommen mit dem wenigen, was ihr hattet. Falls es stimmt. Und sich nicht um freie Phantasien von guter alter Hjelmholm – Qualität handelt.«
»Fünf Mann«, fuhr Holm fort, anscheinend ohne ihn gehört zu haben, »an einem Tisch neben der Tür. ›Keine Skinheads, aber fast‹. ›Skinheads, die die Altersgrenze überschritten haben.‹ Sie verschwinden sofort, lassen aber Carlstedt zurück, weil er der einzige ohne Vorstrafe ist. Geistesgegenwärtig. Carlstedt wird von den Kollegen der Nachtschicht kurz verhört, kann sich aber ausweisen und wird aufgefordert, sich am folgenden Vormittag zu einem ausführlichen Verhör im Polizeipräsidium einzufinden. Danach trifft er sich mit den vieren, die abgehauen sind, und alle fünf verbringen die Nacht damit, die bestmögliche Erklärung zu finden, um die Polizei von sich abzulenken. Carlstedt soll sagen, dass er den Kvarnenmörder gesehen hat. Das lenkt tatsächlich unsere Aufmerksamkeit soweit ab, dass wir ihn ohne Umstände laufen lassen, nicht zu seinen vier Kumpels, sondern jetzt zu seinen fünf, denn die übrigen vier sind gerade in Närke gewesen und haben ihren Boss Niklas Lindberg abgeholt. Jetzt sind die sechs vereint. Es heißt nur noch, die kommende Nacht abzuwarten. Nicht nur aus einer, sondern aus zwei Quellen kennen sie jetzt Zeitpunkt und Treffpunkt. Von Lordan Vukotic im Gefängnis und von der Gang im Kvarnen, die weitgehend mit Jorges Gang 1 identisch ist: 1 A, 1B, 1C.«
»Warum zum Teufel sollten sie im Kvarnen sitzen und den Treffpunkt diskutieren?« unterbrach Hultin und spürte, wie die Mauern der Neutralität zu zerbröckeln begannen. »Das ist doch total irrwitzig.«
»Zwei Parteien sind beteiligt, was den Treffpunkt angeht. Diese beiden Parteien kommen im Kvarnen zusammen. Der Aktenkoffer, der später übergeben werden soll, enthält entweder Geld oder Drogen. Die beiden Parteien trauen einander nicht. Sie begegnen sich an einem neutralen Ort, an einem öffentlichen Ort, um den Treffpunkt auszuhandeln. Sie sprechen englisch, weil es sich, wie gesagt, um erst vor kurzem eingetroffene Kriegsverbrecher aus Jugoslawien handelt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass man einen derart öffentlichen Treffpunkt wählt. Die andere Partei hat vermutlich keine Lust, in irgendeiner dunklen Gasse eine Gang total unberechenbarer Kriegsverbrecher zu treffen. Zurück zum Knast: Vukotic weiß bereits von dem provisorischen Treffpunkt für die kommende Nacht. Oder zumindest geht Niklas Lindberg davon aus. Er geht ein großes Risiko ein, als er – am Vorabend seiner Entlassung – Vukotic innerhalb der Gefängnismauern schwer misshandelt. Vielleicht, um noch einmal abzuchecken, was seine Kollegen kurz darauf im Kvarnen in Erfahrung bringen werden. Vielleicht, weil es ihm ganz einfach Spaß macht. Weil es Spaß macht, einen Kanaken zu foltern. Eine schöne Welt!«
»Es gibt also eine Partei, die in unseren Überlegungen fehlt«, sagte die Polizistenaura, die Jan-Olov Hultin noch umgab. »Der Mann, der mit Gang 1 im Kvarnen englisch geredet hat. Der den später geklauten Aktenkoffer in Empfang nehmen sollte. Wo zum Teufel kommt übrigens dieser Aktenkoffer her? Woher wissen wir, dass es sich um einen Aktenkoffer handelt?«
»Von dem Abdruck in 2 As Blut«, sagte Chavez. »Eskil Carlströms, wenn er es denn ist.«
»Carlstedt«, sagte Hjelm.
»Der passte zu einer Tasche, Modell Aktenkoffer. Das war das wahrscheinlichste.«
»Okay«, sagte Hultin. »Nehmen wir das bis auf weiteres an. Zurück zu der anderen Partei in dem englischen Gespräch im Kvarnen.«
»Das habe ich bis zum Schluss aufgehoben«, sagte Kerstin Holm. »Das ist nicht so witzig. Wahrscheinlich handelt es sich um einen schwedischen Polizeibeamten.«
Es wurde ein wenig geseufzt in der Kampfleitzentrale. Nicht erstaunt, nicht empört, eher ein wenig desillusioniert. Im vorangegangenen Jahr hatte PAN, der Disziplinarausschuss der Reichspolizeibehörde, vier Beamte wegen krimineller Aktivitäten entlassen. Vier weitere kündigten selbst, um einer drohenden Entlassung zuvorzukommen. Einundzwanzig Kollegen waren disziplinarisch belangt worden, siebzehn von ihnen erhielten eine Abmahnung.
Holm fuhr fort:
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