Falsche Opfer: Kriminalroman
auskannten. Wir verbrachten die Nacht damit, eine Ansammlung von Figuren zu verhören, die irgendwann einmal in Zusammenhang mit Sprengstoff in Erscheinung getreten waren. Erst jetzt, hier in diesem Augenblick, geht mir auf, wie falsch wir argumentiert haben. Wenn der Täter wirklich ›die Spuren seines Wütens beseitigen‹ wollte, um Göran Andersson zu zitieren, bedeutet das, dass er die Konsequenzen, als er Vukotic folterte, nicht richtig einschätzte. Natürlich schätzte er sie richtig ein. Er wusste, dass Vukotic die rechte Hand des Drogenhändlers Rajko Nedic war. Unantastbar. Stand dem vielleicht gefährlichsten Mann in ganz Schweden am nächsten. Natürlich wusste man, worauf man sich einließ, als man Vukotic aus dem Weg räumte. Die Sprengung war kaum das Ergebnis einer nachträglichen Überlegung oder einer Art von Furcht, entdeckt zu werden. Sie war eher eine Herausforderung. Eine Mitteilung. Und diese Mitteilung besagt: Sieh dich vor, Scheißkanake, jetzt kommen wir! Doch nicht nur. Sie besagt auch: Scheißbullen, es ist mir schnuppe, wenn ihr mich identifiziert, ihr kriegt mich eh nicht zu fassen!«
Es herrschte völlige Stille in der Kampfleitzentrale. Wieder schien sie auf einen Schlag ihre Anführungszeichen verloren zu haben. Etwas unangenehm – doch zugleich faszinierend - Großes warf seine Schatten voraus.
»Ja«, sagte Arto Söderstedt. »Ihr seht alle, worauf ich hinauswill. Zwei Dinge. Erstens: Der Kumlabomber war keiner, der im Knast saß und verfaulte und Angst hatte, sondern er war ein Mann, der Kumla verließ – mit Schwung. Zweitens: Was wir hier vor uns haben, ist eine Konfrontation zwischen nazi-gefärbten, professionellen, vielleicht, ja, paramilitärischen Angreifern auf der einen Seite und einem von Schwedens führenden Drogenhändlern, Rajko Nedic, und seinem Anhang von Kriegsverbrechern aus dem ehemaligen Jugoslawien auf der anderen Seite. Das hört sich doch prima an. Und es erklärt vielleicht, warum keiner in Gang 1 – weder 1 A, 1 B oder 1 C – identifizierbare Fingerabdrücke hinterlassen hat. Sie sind direktimportiert aus, ja, vielleicht sogar aus dem Kosovo. Auf jeden Fall vom Kriegsherd auf dem Balkan.«
»Und alle drei sterben«, sagte Jorge Chavez, dem fast der Atem stockte. Ganz soweit hatte er noch nicht gedacht. Er betrachtete Arto Söderstedt, wie er, scheinbar träge, dasaß, schlaksig und kreideweiß, und diese grässlichen Wahrheiten gleichsam beiläufig von sich gab.
Und er fuhr noch fort, mit einem Schreiben wedelnd: »Ich sitze hier mit dem Fax in der Hand. Es kommt vom Anstaltschef in Kumla. Gestern morgen um halb neun wurde ein Insasse aus dem Kumlabunker entlassen. Sechs Minuten vor der Explosion. Er hatte drei Jahre abgesessen, war verurteilt zu sechs wegen schwerer Körperverletzung, kam aber wegen guter Führung nach der Hälfte der Zeit frei. Auch er war einschlägig bekannt, wie man so schön sagt, und gehörte zum Umfeld nazistischer und rassistischer Organisationen. Er schlug vor drei Jahren zwei kurdische Bürgerrechtler zusammen, die im Solna Centrum demonstrierten. Auch da spielt eine Sprengladung eine Rolle, und zwar in einem kurdischen Kulturzentrum, doch ihm war nichts nachzuweisen. Er trägt den harmlosen Namen Niklas Lindberg, ist fünfunddreißig Jahre alt und kommt aus Trollhättan. Ausbildung zum Berufsoffizier, rasche Beförderung, war ein paar Wochen bei der UN-Truppe in Zypern – und schloss sich dann der französischen Fremdenlegion an. Er soll – doch das ist unbestätigt – über gute Kontakte zu fremdenfeindlichen Organisationen in aller Welt verfügen. Nicht zuletzt in den USA. Mein Tipp, wenn ein solcher gestattet ist: Niklas Lindberg ist 2D. Der Führer und der Wahnsinnige. Der Mann, der aus nächster Nähe achtzehn Schuss auf einen verletzten Menschen abgab.«
»Der mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien war«, nickte Jan-Olov Hultin. »Jetzt beginnt es auch einem alten Pensionär zu dämmern. Jorge, Sven Joakim Bergwall hat seine letzte Gefängnisstrafe in Kumla abgesessen. Stimmen die Zeiten mit Niklas Lindbergs überein?«
»Lindbergs Name ist mir neu«, räumte Chavez ohne Umschweife ein, während er in einigen Papieren blätterte. »Aber Bergwall wurde vor einem Monat aus Kumla entlassen. Es ist wohl nicht ganz unwahrscheinlich, dass zwei gewaltbereite Nazis wie diese beiden in Kumla zusammengekommen sind. Bergwall hat das Ganze von außen organisiert, Lindberg von
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