Falsche Väter - Kriminalroman
Gertrud!«, schrie er und gab gleichzeitig Gas. »Trude!« Aber
sie hörte ihn schon nicht mehr.
* * *
Anna wachte erst auf, als sie auf dem Waldparkplatz in der
Bönninghardt ankamen. Sie schaute aus dem Fenster, sah den Himmel, die Bäume.
Es war heller Tag, aber es kam ihr vor, als sei Dämmerung. Sie versuchte sich
zu erinnern.
Es hatte geschellt, und sie war zur Haustür gegangen, in der
Annahme, es sei der Briefträger. Sie hatte niemanden gesehen, und dann war
dieses Tuch vor ihrem Gesicht gewesen. Sie hatte keine Luft mehr bekommen und
wusste nicht einmal, ob sie umgefallen war. Sie konnte sich auch nicht an den Mann
erinnern, der jetzt neben ihr im Auto saß. Ein Schild auf dem Handschuhfach
verriet ihr, dass es sich um einen Leihwagen handelte. Der Mann am Steuer
schaltete den Motor ab und löste den Sicherheitsgurt. Anna schloss schnell die
Augen und tat so, als würde sie schlafen. Mit der rechten Hand tastete sie nach
ihrem Handy. Es war nicht da. Sie fühlte sich nackt und hilflos ohne ihr
Telefon, obwohl sie genau wusste, dass es ihr jetzt genauso wenig helfen würde
wie bei Onkel Theo.
Der Mann stieg aus. Er ging zu einem Taxi, das auf dem Parkplatz
wartete. Anna sah ihm nach. Sie hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, aber
sie konnte sich nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit. Der Mann redete mit
dem Fahrer. Anna sah, wie er ihm Geld gab und dafür etwas in die Hand gedrückt
bekam. Ihr war schlecht. Die Bäume schwankten vor ihren Augen. Dann kam der
Mann zurück und öffnete die Beifahrertür.
»Steig aus«, sagte er. Anna reagierte nicht.
»Komm schon«, sagte der Mann. »Deine Mutter ist auch da!«
»Mama?«, fragte Anna. »Mama ist hier? Das glaube ich nicht!«
»Doch. Sie ist mit dem Taxi gekommen. Der Fahrer hat gewartet, weil
ich ihn bezahlen musste. Zur Sicherheit hat er den Ausweis deiner Mutter
einbehalten.«
Der Mann zeigte ihr das Dokument. Er hatte nicht gelogen. Anna sah
das Bild ihrer Mutter. Es war ein altes Bild, das Sonja mit einem strahlenden
Lächeln zeigte.
»Und jetzt gehen wir zu Fuß zur Hütte«, sagte der Mann. »Ich will
nicht mit dem Auto in dieses Naturschutzgebiet fahren, wie die anderen das
gemacht haben. Das ist unrecht. Also komm! Du weißt ja, wo es langgeht. Es ist
nicht sehr weit. Wenn du nicht gehen kannst, werde ich dich stützen. Wenn es
nötig ist, trage ich dich sogar. Aber sei vorsichtig, wenn uns jemand begegnen
sollte. Ich will nicht, dass man auf uns aufmerksam wird.«
Anna stieg aus. Sie sah zu den Kronen der Bäume hinauf, hilflose
Wachposten, die sich nicht rührten und ihr nicht helfen konnten. Der Mann nahm
einen Lederrucksack von der Rückbank, warf ihn sich über und verschloss das
Auto. Im selben Augenblick fiel Anna ein, woher sie sein Gesicht kannte. Von
dem Bild, das immer in der Hütte gehangen hatte! Er war einer der drei Freunde,
mit denen Onkel Theo auf der Annakirmes gewesen war.
Der Mann machte sich auf den Weg. Anna stolperte neben ihm her. Er
stützte sie. Er war stark. Sie wehrte sich nicht und spürte, wie sich ihr
Bewusstsein mit jedem Schritt schärfte. Aber ihre Gedanken wurden nicht klarer,
drehten sich weiterhin sinnlos im Kreis und verstärkten das Gefühl der
Hilflosigkeit. Als sie den Hohlweg erreichten, schüttelte sie den Arm des
Mannes ab und ging das letzte Stück allein.
»Mama!«, rief sie, als sie ihre Mutter sah.
Sonja stand auf der Veranda. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf
zusammengebunden und trug das Kleid, das Anna ihr in Krefeld gekauft hatte. Als
sie Anna sah, lief sie ihr entgegen und schloss sie in die Arme.
»Hab keine Angst«, flüsterte sie. »Ich bin ja da.«
Dann wandte sie sich an den Mann. »Thomas! Was soll das hier? Was
willst du von uns?«
»Ich werde euch alles erklären«, sagte Schelling, holte den
Schlüssel aus dem Versteck und schloss die Hüttentür auf.
»Kommt doch rein!«, rief er.
Als sie die Hütte betraten, schlug Schelling zu. Es waren keine
harten Schläge, aber sie reichten aus, Sonja und Anna zu Boden zu schicken.
* * *
Van de Loo schaute auf die Uhr, obwohl es nichts nutzte. Die Zeit
verging und ließ sich nicht anhalten. Alles veränderte sich mit ihr und schritt
voran, unaufhaltsam. Es geschah, während die Gegenwart in die Zukunft
hinüberglitt, als hätte alles überhaupt keinen Sinn. Vielleicht passierte es
gerade in diesem Augenblick. Oder im nächsten. Es geschah. Es würde geschehen.
Oder es war bereits geschehen.
»Schelling!«, schrie van
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