Falsche Väter - Kriminalroman
Schelling zur Seite und stapfte an ihr vorbei durch
das Haus. Entsetzt starrte sie auf seine Straßenschuhe. Van de Loo ging durch
das Wohnzimmer. Er riss die Tür auf, die zu den hinteren Räumen führen musste,
und stieg eine kleine Treppe hinab. Ein Vorhang versperrte den Weg. Van de Loo
riss ihn mit einem Ruck zur Seite. Vor ihm lag ein großer, sehr heller Raum. Er
war so gut wie leer, die Wände in einem kalten Weiß gestrichen, der Fußboden
ein glänzendes Parkett. An der Wand hing eine japanische Tuschezeichnung. Ein
See, eine Berglandschaft, über der ein Adler schwebte. Darunter stand ein
niedriges Tischchen, auf dem ein paar Sachen lagen. Seltsam geformte
Löffelchen, eine gusseiserne Kanne und andere Dinge, die anscheinend für eine
Teezeremonie gebraucht wurden. Dahinter lehnte ein leerer Bilderrahmen an der
Wand. Van de Loo durchquerte den Raum und nahm den Rahmen in die Hand. Er hatte
etwas zu bedeuten, aber er wusste nicht, was.
»Bitte lassen Sie das«, sagte Frau Schelling flehentlich. »Sie
dürfen hier nichts anfassen!« Sie stand neben dem Vorhang und zögerte
anscheinend, das Heiligtum ihres Mannes zu betreten.
Van de Loo stellte den Rahmen an seinen Platz zurück. Erst jetzt sah
er das Päckchen neben dem Tischchen. Jemand hatte es aufgerissen und einen Teil
der Holzwolle auf dem Boden verstreut.
Die Seite des Raumes, die zum Garten führte, bestand aus
Glasschiebetüren. Van de Loo trat davor und blickte zum ersten Mal nach
draußen. Augenblicklich überwältigte ihn ein beklemmendes Gefühl. Es war, als
würde er auf die Tribüne eines Fußballstadions treten und ein Kricketfeld oder
einen Golfplatz vorfinden. Er schob eine der Glastüren auf. Rechts neben der
Tür lag ein großer Stein. Dahinter breitete sich ein helles Steinfeld aus, das
von den dunklen Mauern der Hecken umrahmt wurde. Die Kiesel wirkten, als sei
jeder von ihnen bewusst an seinen Platz gelegt worden. Sie bildeten ein Muster,
ein verschlungenes Ornament, das van de Loo an ein Labyrinth erinnerte.
Plötzlich stieß Frau Schelling in seinem Rücken einen spitzen Schrei
aus. Van de Loo drehte sich um. Die Frau hielt eine Hand vor den Mund. Mit der
anderen deutete sie auf das Päckchen.
»Was ist denn?«, fragte van de Loo.
»Das Päckchen.« Frau Schelling schien unter Schock zu stehen.
»Jemand hat es geöffnet!«
»Das wird Ihr Mann gewesen sein, nehme ich an.«
»Unmöglich! Mein Mann reißt keine Päckchen auf. Er geht achtsam mit
allen Dingen um. Pakete oder Päckchen öffnet er vorsichtig mit einem Messer.
Außerdem würde er diesen Dreck auf dem Boden nicht dulden!«
»Das ist doch nur Holzwolle«, sagte van de Loo beschwichtigend.
»Wissen Sie, was drin gewesen ist?«
»Ja«, sagte Frau Schelling leise. »Natürlich.«
»Und was?«
»Eine Teeschale. Ich bin gestern vom Flughafen direkt nach Hause
gefahren, um das Päckchen annehmen zu können. Es ist pünktlich geliefert
worden. Die Schale ist ein antikes, äußerst wertvolles Stück. Sie hat mehr als
zehntausend Euro gekostet. Thomas hatte das Geld dafür bereitgelegt.«
»Wann genau ist das Päckchen gekommen?«
»Punkt neunzehn Uhr. Thomas hat das so gewollt.«
»Warum sollte die Schale denn gebracht werden, wenn er gar nicht
mehr da war?«
Frau Schelling sah van de Loo erstaunt an. Anscheinend hatte sie
sich diese Frage noch nicht gestellt. Wahrscheinlich hinterfragte sie nie
etwas, was ihr Mann tat oder sagte. Van de Loo bückte sich und durchwühlte den
Karton.
»Hier ist keine Teeschale«, sagte er.
»Meinen Sie, dass sie jemand gestohlen hat?«, fragte Frau Schelling
mit zitternder Stimme.
Van de Loo gab keine Antwort. Er ging wieder nach draußen und
schaute noch einmal in den seltsamen Garten. Da war etwas, was seine
Aufmerksamkeit auf sich zog und ihn gleichzeitig irritierte. Er brauchte eine
Weile, bis er begriff, was es war. Es stand in der Mitte des Steinmusters. Es
war dunkel und nicht besonders groß. Van de Loo konnte nicht erkennen, was es
war, aber es gehörte nicht dorthin.
»Die war gestern Abend auch noch nicht da.« Frau Schellings Stimme
war dünn wie der Faden einer Glühbirne.
»Was ist das denn?«
»Eine Urne. Mein Mann hat sie selbst geschnitzt. Sie ist für seine
Asche bestimmt. Sie stand sonst immer hier drinnen. Wie kommt sie nur in den
Garten?«
»Hat sonst noch jemand Zugang zum Haus?«, fragte van de Loo.
»Verwandte. Nachbarn. Eine Putzfrau?«
»Nein. Thomas duldet keine Fremden im Haus.«
»Dann muss er
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