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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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gingen alle hinaus, nur der Arzt blieb bei mir. »Ihr Baby lebt«, sagte er, »aber . « Nach und nach erfuhr ich, daß man eine sehr seltene Behinderung festgestellt habe, die vielleicht durch komplizierte Operationen behoben werden könne. »Wir haben auf diesem Gebiet leider gar keine Erfahrung, das müßte in einer Spezialklinik durchgeführt werden«, sagte er.
    »Ist es ein Junge?« fragte ich.
    Er nickte. Natürlich bestand ich darauf, meinen Kleinen unverzüglich zu sehen.
    »Von klein kann nicht die Rede sein«, sagte er, »wenn Sie mir versprechen, daß Sie jetzt ganz stark bleiben ...«
    Als man mir meinen Sohn brachte, waren nur der Kopf und zwei Arme zu sehen, der sperrige Rest war in großen Moltontüchern verpackt. Das Bündel wurde neben mich gebettet, und ich schaute in zwei wunderschöne dunkle Augen. Dann tat mein Kind sein Mäulchen auf und brüllte, was das Zeug hielt. Mir war klar, daß mein Sohn quicklebendig und kerngesund war. Mein Gott, dachte ich, was haben die mir für einen unnötigen Schreck eingejagt! Es war ein bildhübscher Junge, den ich da geboren hatte. Ich erinnere mich genau, wie ich langsam den unteren Teil meines Kindes auswickelte. Natürlich war ich grenzenlos überrascht, aber keineswegs abgestoßen.
    Als ich mich acht Monate zuvor nach langem Abwägen für ein eigenes Kind entschloß, überlegte ich natürlich, wer als Vater in Frage käme. Im Prinzip wünschte ich mir nur einen ansehnlichen und intelligenten Erzeuger, Augen- und Haarfarbe waren mir nicht wichtig. Hier am Ort kannte ich keinen Mann, mit dem ich mich einlassen mochte. Eigentlich kam es mir vor allem darauf an, nie wieder von diesem Menschen etwas zu hören, seinen Namen und Beruf nicht zu kennen oder am Ende mein Kind an jedem Wochenende zum Vater schicken zu müssen. Der Karneval in Köln schien mir prädestiniert für eine kurze, zweckgebundene Affäre. Nie hätte ich gedacht, daß mir der Coup so gut gelingen würde: Ich konnte noch nicht einmal das Gesicht des Fremden erkennen! Er trug eine Maske. Was für seltsame Gene mochte er meinem Kind bloß mitgegeben haben?
    Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus durfte ich meinen großen Kleinen auf eigene Verantwortung mit nach Hause nehmen. Insgeheim hatte ich mich entschlossen, keiner Operation zuzustimmen. Die Natur hatte mein Kind anders als nach dem üblichen Muster geschaffen, aber hatte es nicht schon immer Mutationen gegeben?
    Es entstanden natürlich praktische Herausforderungen, die ich aber bewältigen konnte. Die bereits gekaufte Babykleidung habe ich verschenkt, auch das Bettchen war ungeeignet. Passende Pampers konnte ich nicht im Supermarkt besorgen, sondern mußte sie in der Apotheke bestellen. Hinzu kam, daß der Junge - kaum war er zu Hause von seiner strammen Wickelung befreit - stehen und laufen wollte. Selbst meine Mutter, die nur schwer zu beeindrucken war, kam aus dem Staunen nicht heraus. Als sie mit einem selbstgestrickten Spezial-Strampelanzug scheiterte, ließen wir den Kleinen nur noch in einem Jäckchen und einer Windel herumtollen. Zum Stillen kam er munter angetrabt und trank in gierigen Zügen.
    »Wir werden bald zufüttern müssen«, sagte die Hebamme, »wie soll Ihr Junges denn heißen?«
    Meine Mutter war für Philip, aber das fand ich zu banal. Nach reiflichem Überlegen entschloß ich mich für Arnold, nach dem von mir hoch geschätzten Maler Böcklin.
    Mein Beruf als Übersetzerin kunsthistorischer Texte läßt mir zum Glück viel Freiheit. Ich kann zu Hause arbeiten und muß nur gelegentlich bei meinem Verlag in Frankfurt vorsprechen. In dieser Hinsicht konnte ich es durchaus verantworten, als alleinstehende Mutter ein Kind aufzuziehen. Mit einem anderen Problem hatte ich allerdings nicht gerechnet: Man kündigte mir die Wohnung, weil das ständige Getrappel nicht auszuhalten sei. Wahrscheinlich steckten aber noch andere Vorurteile dahinter, die meine intolerante Vermieterin nicht laut auszusprechen wagte.
    Wir zogen also zu meiner Mutter, was ich in früheren Jahren vehement abgelehnt hätte. Aber hier konnte Arnold toben, wie er wollte; er bekam sogar das sonnige Zimmer im Erdgeschoß, damit er ohne Gefahr direkt in den Garten hinauslaufen konnte. Schon bald hatte meine Mutter einen Narren an ihrem jüngsten Enkelkind gefressen und spendierte ihm die riesige Matratze ihres früheren Ehebetts.
    Zu meiner Freude entwickelte sich Arnold prächtig. Viel früher als seine Altersgenossen wurde er stubenrein. Dabei hatte er

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