Falsche Zungen
Aus diesen Gründen habe ich mir überlegt, daß ich Astrid heiraten werde.«
Meiner Schwester und mir blieb eine Weile der Mund offen. Dann fing Astrid an zu lachen. »Aber klar doch«, sagte sie, »wohin soll die Hochzeitsreise gehen?«
Ich fand das gar nicht lustig. »Papa«, sagte ich, »Astrid wird wohl irgendwann heiraten wollen, aber sicherlich nicht ihren hinfälligen Stiefvater!«
»Halt den Mund«, sagte Astrid zu mir, »die Idee hat was. Wie hoch wäre denn die Rente?«
Mein Vater rief bei verschiedenen Profis an, um sich schlau zu machen, und heiratete seine Stieftochter schon wenige Wochen später. Da sich an unserem bisherigen Leben absolut nichts änderte, hielten wir die Sache geheim und weihten keine Außenstehenden ein. Manchmal, wenn Astrid gut aufgelegt war, verlangte sie, ich solle Mama zu ihr sagen. Dann tat ich ihr den Willen und brabbelte wie ein Zweijähriger.
Den Zivildienst konnte ich im nahe gelegenen Kreispflegeheim absolvieren. Erschöpft von den ungewohnten körperlichen Arbeiten, kam ich abends nach Hause und fand es nett, daß Papa und Astrid am gedeckten Tisch auf mich warteten. Das ungleiche Paar schien sich zu freuen, wenn ich ihnen beim Essen Gesellschaft leistete, denn im Grunde hatten sie sich wenig zu sagen. Nach dem Abendessen saßen wir manchmal zu dritt vorm Fernseher, aber meistens begab sich Astrid in die eigene Wohnung. Sie mochte es nicht besonders, wenn ich sie dort besuchte. Seit sie einen Computer besaß, verbrachte sie viel Zeit mit diesem Lieblingsspielzeug.
Hin und wieder machte ich mir Gedanken über Astrids wunderliche Existenz, denn sie pflegte keinerlei Kontakt zu Altersgenossen. Wünschte sie sich nicht irgendwann eine eigene Familie?
»Du bist schon über dreißig«, sagte ich eines Tages, »willst du eigentlich dein ganzes Leben lang Haushälterin spielen? Möchtest du keine eigenen Kinder haben?«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte sie, »außerdem hab ich ja dich, und ein Kindskopf reicht vorläufig. Oder wünschst du dir am Ende ein Schwesterchen?«
»Bin ebenfalls schon bedient, aber ein Brüderchen fehlt noch zum Glück, Mama«, sagte ich.
Indessen sah ich bald ein, daß sie konsequent bleiben wollte. Schließlich hatte sie Papa geheiratet, um später eine Witwenrente zu bekommen, und bei einer zweiten Ehe entfiele diese Rente wieder. Wenn Vater aber noch jahrelang am Leben blieb, würde sie schließlich zu alt zum Kinderkriegen sein. Ob sie ihn deshalb haßte? Ob sie womöglich Mordgedanken hegte? Es sah nicht so aus; Astrid wirkte zufrieden. Pfeifend und summend pusselte sie im Haushalt herum, ohne sich dabei zu übernehmen. Anscheinend tat es ihr ganz gut, keinem beruflichen Streß ausgesetzt zu sein. Sie war eine loyale Ehefrau, falls man überhaupt von Ehe reden konnte. Wahrscheinlich hatte sie noch nie mit einem Mann geschlafen, obwohl ich spätabends gelegentlich eine sonore Stimme in ihrer Kellerwohnung zu hören meinte. Doch das war wohl nur das Radio.
Gab es überhaupt Kandidaten, die sich für Astrid interessieren würden? Sie hatte die langen Zähne und das offenliegende, blaßrosa Zahnfleisch von ihrem unbekannten Vater geerbt. Wenn sie lachte - und das tat sie glücklicherweise oft -, glich sie einem wiehernden Pferd. Ihre Figur war ein wenig plump, die Hände waren derb und rissig. Astrid kleidete sich wie ein irischer Fischer in Jeans und grobgestrickte Pullover. Vermutlich hatte sie Min-derwertigkeitskomplexe, obwohl das bei ihrem wachen und praktischen Verstand durchaus nicht nötig gewesen wäre. Seit ich kein Schüler mehr war, pflegten wir ein kameradschaftliches Verhältnis zueinander, schlugen uns zuweilen kräftig auf die Schulter und kicherten gern über Dinge, die für Außenstehende unverständlich waren.
Die Beziehung meines Vaters zu seiner Stieftochter und zweiten Ehefrau war hauptsächlich von Dankbarkeit geprägt. Er hatte zwei linke Hände oder gab es jedenfalls vor. Niemals kam er auf die Idee, sich selbst eine Tasse Tee aufzubrühen. Immerhin verwaltete er seine Finanzen umsichtig, sorgte dafür, daß unsere Rechnungen bezahlt wurden, und studierte stundenlang Insider-Tips zum Steuersparen. Daß er meine Schwester jemals in ihrem Reich aufgesucht hätte, obwohl sie ja nur zwei Treppen unter ihm wohnte, daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht sollte niemand auf die Idee kommen, er verlange mehr als korrekte Haushaltsführung.
Gelegentlich beobachtete ich mit Befremden, wie sehr ich meinem Vater mit der
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