Falsche Zungen
einer elfjährigen Tochter. Über den ersehnten Stammhalter, also über meine Geburt ein Jahr später, freuten sich nicht nur mein ältlicher Papa und meine Mutter, sondern auch meine altkluge Halbschwester.
Zweifellos wäre es normal gewesen, wenn Vater als erster der Familie gestorben wäre, aber es erwischte ausgerechnet unsere kerngesunde Mama. Ich hatte gerade die Aufnahme ins Gymnasium geschafft, als sie bei einem Straßenbahnunfall umkam. Bei allem Unglück war es der einzige Trost, daß meine Halbschwester noch im Haus wohnte. Eigentlich wollte sie gerade ausziehen, doch in seiner Not ließ sich mein hilfloser Vater nicht lumpen und überschrieb ihr eine gepflegte kleine Einliegerwohnung im Souterrain. Dafür übernahm sie den Haushalt sowie meine Erziehung und verschob ihre noch vagen Studienpläne auf unbestimmte Zeit.
Natürlich war meine Schwester Astrid keine erfahrene Hausfrau wie unsere verstorbene Mutter. Mitunter experimentierte sie mit teuren oder ungewohnten Speisen. Dann mußten mein Vater und ich Austern schlürfen,
Hummer knacken oder gar Algen hinunterwürgen, an anderen Tagen wiederum mit Fertiggerichten vorliebnehmen. Mir war eine Pizza sowieso lieber, aber mein Vater hätte gern Eintöpfe mit Siedfleisch gegessen. Er wagte jedoch nicht, allzuviel herumzumeckern, denn eine fremde Haushälterin wäre ihm ein Greuel gewesen. Als sparsamem Patriarch gefiel es ihm, daß Astrid wenig Geld für Kleidung ausgab und den Etat nicht ungebührlich belastete. Im übrigen befahl mir Vater Jahr für Jahr, zum Muttertag einen Strauß Maiglöckchen für Astrid zu pflücken; sie hat nie darüber gespottet, sondern die Blumen stolz vor ihre Kaffeetasse gestellt.
Für mich war es keine leichte Zeit. Meine Schwester war zwölf Jahre älter und benahm sich nicht wie ein verständnisvoller Kumpel, sondern eher wie ein Feldwebel. Mit Ausdauer fragte sie Vokabeln ab und horchte mich neugierig aus, ob ich nicht schon eine Freundin hätte. Täglich kontrollierte sie mein Kommen und Gehen und strafte mich mit Taschengeldentzug oder Zimmerarrest, wenn ich nur im geringsten über die Stränge schlug. Sie vertrat sogar meine Interessen auf den Elternabenden, weil sich mein Vater niemals dazu aufgerafft hätte. Astrids tapfere Auftritte in meiner Schule waren durchaus anerkennenswert, denn es kostete sie große Überwindung. Im Grunde hatte sie den gleichen Spleen wie mein Vater: Beide verließen nur ungern die eigenen vier Wände. Die meisten Einkäufe tätigten sie über den Versandhandel, einmal in der Woche wurden tiefgekühlte Lebensmittel angeliefert, nur der Postbote fungierte als V-Mann zur Außenwelt.
Wahrscheinlich verdanke ich es meiner strengen Schwester, daß ich ein gutes Abitur machte, aber leider wurde mir die Freude daran durch mein schlechtes Gewissen versalzen. Als ich nach der Abiturfeier und der ersten durchzechten Nacht meines Lebens nach Hause kam, war niemand da. Auf der Küchentafel stand: Mußte Papa ins Krankenhaus bringen. Astrid
Es war ein Schlaganfall, von dem er sich jedoch relativ schnell erholte. Mein Vater gab das Rauchen auf und wurde nachdenklich. Eines Tages bat er uns zu einer Familienkonferenz in sein sogenanntes Studierzimmer. Seit der Pensionierung saß er meistens hier, vorzugsweise in Gesellschaft seiner Zeitungen und einer Kognakflasche. Zum ersten Mal fiel mir auf, daß sein roter Schopf grau geworden war.
»Beinahe hätte mein letztes Stündlein geschlagen«, klagte er, »und ich muß mich wohl mit der unangenehmen Tatsache abfinden, daß mein Leben jederzeit zu Ende gehen kann. Es macht mir Sorgen, daß ihr alle beide keinen Beruf habt und materiell immer noch von mir abhängig seid. Für dich, mein Junge, ist vorgesorgt; solange du noch in Ausbildung bist, würdest du bis zum 27. Lebensjahr eine Waisenrente erhalten, außerdem erbst du dieses Haus und ein Grundstück deiner Großeltern. Aber für Astrid sieht es weniger gut aus. Sie besitzt nur die Einliegerwohnung. Dabei hat sie jahrelang ihre eigenen Interessen zurückgestellt und sich für uns beide aufgeopfert.«
»Hättest du Astrid adoptiert ...«:, begann ich.
»Hätte, hätte, hätte«, sagte Vater ärgerlich. »Für eine Waisenrente ist sie sowieso zu alt. Außerdem gibt es nur Streit, wenn Geschwister das Erbe teilen müssen. Wenn eure Mutter noch lebte, erhielte sie im Fall meines Todes eine ansehnliche Witwenrente, schließlich habe ich dafür jahrzehntelang Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt.
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