Falsche Zungen
Tom mit diesen wurmstichigen Bruchstük-ken anderes machen, als sie im Ofen zu verheizen? Nebenan diente ein Geräteschuppen als Werkstatt und Garage, hier sah es schon besser aus. Aber erst im ehemaligen Kuhstall wurde es interessant, fast wähnte ich mich auf einem bäuerlichen Flohmarkt. Gemächlich lahmte und wühlte ich herum, bis ich auf dem Rückweg erneut durch die vollgestopfte Scheune tappte. Bei der ersten Besichtigung war mir der vergammelte Schrankaufsatz mit der Schnitzerei eines geflügelten Löwen nicht aufgefallen. Ich erinnerte mich vage, daß ich als Kind dieses geheimnisvolle Fabelwesen im Schlafzimmer meiner Großmutter bestaunt hatte. Als ich die Schranktüren aufzog, stieß ich auf einen kleinen Lederkoffer, der mir ebenfalls vertraut vorkam. Auf einem vergilbten Schildchen war der Name meines verstorbenen Onkels zu lesen.
Inzwischen war der Hund wieder bei mir angelangt und leckte mir freudig die schmutzigen Hände. Ich schob ihn ungeduldig beiseite, wischte mir Spinnweb von der Stirn und versuchte, den Koffer aufzubekommen. Da ich es nicht ohne Schraubenzieher schaffte, schleppte ich ihn in die Werkstatt. Dort war auch das bessere Licht, so daß ich nach fünf Minuten die verrosteten Schlösser geöffnet hatte.
Wieder mal nichts als Papier, dachte ich mißmutig. Aber unter den Zeitungsausschnitten, die ich achtlos durchblätterte, befand sich ein ganzer Stapel Autogrammkarten von hohem Liebhaberwert. Gerhart Hauptmann, Ludwig Tho-ma, Hugo von Hofmannsthal, Bert Brecht und Franz Kafka waren wohl die ranghöchsten Exemplare, die ich mit zitternder Hand liebkoste. Aber auch lebende, wenngleich steinalte Autoren waren vertreten. Vor Glück war ich völlig aus dem Häuschen, denn im Grunde war dieser Fund mein rechtmäßiges Eigentum.
Bald darauf meldeten sich jedoch massive Zweifel. Tom würde meinen Anspruch niemals gelten lassen, denn er konnte mir mit diesem Köder nach und nach sämtliche Ersparnisse aus der Tasche locken. Sicherlich stammten bereits Friedrich Dürrenmatt und Siegfried Lenz aus diesem Fundus.
Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden beschloß ich, gesetzeswidrig zu handeln und den Koffer zu entwenden. Tom hatte mich stets mit abwertenden Spitznamen angesprochen, er hatte zum Glück keine Ahnung, daß ich Eduard Mörike hieß. Meine Adresse war ihm ebenfalls unbekannt, und vielleicht bemerkte er erst nach Monaten, daß der Inhalt des Schrankaufsatzes fehlte. In fieberhafter Eile beseitigte ich alle Spuren meiner Anwesenheit, schnürte den Koffer mit einer Hundeleine zusammen und bestellte mir ein Taxi, auf das ich ziemlich lange warten mußte.
Als ich schließlich einen Wagen nahen hörte, hatte meine große Wut über die Furcht gesiegt. Die Gedanken- und Herzlosigkeit meiner Mitmenschen, unter denen ich mein Leben lang gelitten hatte, wurde wieder einmal bewiesen. Durch ihre Unachtsamkeit hatte mich die Pflegerin meines Onkels um mein wertvollstes Erbe betrogen, während Tom den Lederkoffer einfach einkassiert hatte, ohne sich nach den Besitzverhältnissen zu erkundigen. Nie hätte er mir verraten, daß er einen ganzen Stapel von Autogrammen besaß, weil er mir Jahr um Jahr immer wieder einige Exemplare für teures Geld andrehen wollte.
In diesem Moment der Verbitterung zündete ich eine von Toms Zigaretten an, humpelte eilig zur Scheune und warf die glimmende Zeitbombe hinein. Wenn alles lichterloh abgebrannt war, würde Tom nie erfahren, daß ich zuvor mein Eigentum gerettet hatte.
Als mich das Taxi am Bahnhof von Mörlenbach absetzte, schnürte mir die Angst jedoch fast die Kehle zu. Ich hatte zwei Schwarzfahrer gedeckt, einen Koffer gestohlen und war am Ende zum kriminellen Brandstifter geworden. Konnten die paar Autogrammkarten eine solche Verrohung rechtfertigen? Ich beschloß reumütig, dieser unseligen Obsession für immer zu entsagen, und besuchte monatelang kein einziges Sammlertreffen.
Im übrigen stand kein Wort über einen Scheunenbrand in der Zeitung; wahrscheinlich war die Zigarette wieder ausgegangen, ohne Schaden anzurichten.
Mit der Zeit träumte ich nicht mehr jede Nacht, daß Tom und Maxe mir auf der Spur waren oder gar die Polizei gegen mich ermittelte. Das Leben ging weiter wie bisher, aber ich wagte dennoch nicht, den Inhalt des Lederkoffers auszupacken und mich daran zu erfreuen.
Eines Tages, es war fast anderthalb Jahre später, wurde ich bei einem Einkaufsbummel mitten auf der Hauptstraße hinterrücks umklammert. Als ich mich in panischem
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