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Falsche Zungen

Falsche Zungen

Titel: Falsche Zungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Kontrolleur zusteigt.«
    Ich versprach es, überprüfte die Tickets der wenigen Fahrgäste und servierte Tom und Maxe ihr Bier. Sowohl in Bad Hersfeld als auch in Fulda und Hanau stiegen kaum Reisende ein, so daß wir eine relativ ungestörte Zeit miteinander hatten. Mein erschöpfter Kamerad schlief fest.
    Während wir durch das dunkle Land fuhren, erzählte mir Maxe, daß er Installateur bei einem Kundendienst sei. Als Hobby nannte er das Erwerben von Militaria, am liebsten Orden aus dem Zweiten Weltkrieg. Mit seinem Cousin Tom verband ihn die Leidenschaft für Motorradfahren und Sammeln. Beide wohnten im gleichen Dorf.
    Tom hauste im heruntergewirtschafteten Hof seiner Väter. Seine Eltern hatten die Landwirtschaft aufgegeben und die Felder verkauft, weil Tom keine Lust gehabt hatte, das unrentable Erbe anzutreten. Er verdiente sein Brot als selbständiger Entrümpler. Durch Anzeigen mit dem immer gleichen Text requirierte er seine Kundschaft:
    Entrümpelung
    Wohn- und Geschäftsauflösung Verwertbare Teile werden angerechnet Unverbindliche Besichtigung
    Nicht ohne humoristische Einlagen sprach er von seiner schweißtreibenden Arbeit und den wunderlichen Entdek-kungen beim Ausräumen einer Wohnung oder gar eines ganzen Hauses. Mit den Angehörigen wurde zwar ein Fixpreis vereinbart, aber in der Regel hatten sie alle Kostbarkeiten an sich genommen, bevor der Entrümpler kam. Ursprünglich hatte Tom keine Ahnung vom Wert gebrauchter Gegenstände, aber inzwischen verstand er sich auf blitzschnelles Einschätzen. Nicht verwertbaren Abfall fuhr er auf die Mülldeponie, Metallteile zum Schrotthändler; Möbel und Raritäten, die eventuell einen gewissen Liebhaberwert hatten, bot er einem Antiquitätenhändler an, Trödel und wacklige Schränke lagerte er in seiner Scheune.
    Ein hölzernes Schild mit eingebrannter Schrift lockte immer wieder Touristen und Spaziergänger an, die nicht ungern einen irdenen Krug, einen Fotorahmen aus schwarzem Pappmache oder ein handgewebtes Leinentuch nach Hause in die Stadtwohnung mitnahmen. Wenn die Entrümpelung ihm Zeit ließ, machte Tom sich ans Ablaugen und Aufarbeiten einzelner Schränke, ans Durchwühlen unzähliger Schubladen, ans Sortieren bäuerlicher Bettwäsche, oder er dekorierte archaische Küchengeräte.
    Bei seinen Schilderungen verstand es Tom gut, die feinsinnigen Antiquitätenhändler nachzuäffen, wie sie ihm mit allerlei Tricks ein wertvolles Stück für einen Apfel und ein Ei abschwätzen wollten. Aber er besaß eine gehörige Portion Schlitzohrigkeit und war nur ganz am Anfang seiner Laufbahn übers Ohr gehauen worden.
    Ich wußte nicht, ob ich ihm alles glauben sollte. Zwar hatte ich in meinem Beruf mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun, mußte Halbwüchsige ermahnen oder Kleinkinder trösten, mußte mich oft genug auf Ausländer und ihre Sitten einstellen, Omas den Koffer hochwuchten, arroganten Geschäftsleuten den Kaffee neben den Laptop stellen, Schwarzfahrer ins Dienstabteil dirigieren, Liebespaare aus der Toilette scheuchen, Fußballfans oder Kirchentagsbesucher vom lauten Singen abhalten, gelegentlich sogar randalierende Besoffene der Bahnpolizei übergeben. Tom und Maxe gehörten jedoch nicht zu meiner üblichen Kundschaft, und auch sie empfanden die Bahnfahrt als exotisches Abenteuer. Ich erzählte ihnen meinerseits, daß ich eine Ausbildung im Betriebsdienst absolviert hatte, aber viel mehr gab es nicht zu berichten.
    Im nachhinein kann ich kaum begreifen, daß ich mich von fremden Existenzen derart fesseln ließ und mir diese andere Welt so aufregend erschien. Nur so kann ich mir erklären, daß ich als altgedienter Eisenbahner Zeit und Raum vergaß und um ein Haar den Kollegen nicht geweckt hätte. In letzter Minute riß ich mir seine Jacke vom Leib und warf ihm den Zangendrucker vor die Füße. Er klopfte mir auf die Schulter und wünschte mir alles Gute, denn ich mußte in Windeseile umsteigen.
    Auf dem Bahnsteig ertönte schon der Pfiff für die Abfahrt, als ich mit Tom und Maxe losspurtete und dabei stürzte. Dieser Vorfall ist mir heute noch peinlich, weil ich seit 25 Jahren bei jeder Haltestelle ein- und aussteige und noch niemals gestrauchelt bin. Doch diesmal war ich durch mein schlechtes Gewissen so aus dem Takt geraten, daß ich auf der leicht vereisten Treppe ausglitt und mich beim Fall verletzte.
    Man muß es Tom und Maxe anrechnen, daß sie nicht in ihren bereits eingefahrenen Regionalzug stiegen, sondern mich in den Wartepavillon

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