Falsche Zungen
schleiften und für eine notdürftige Verarztung sorgten. Zum Glück waren meine Verletzungen eher schmerzhaft als besorgniserregend, so daß sich die Behandlung durch einen Arzt erübrigte. Aller-dings hatte ich wohl einen leichten Schock erlitten, zitterte am ganzen Körper und weinte leise vor mich hin. Meine Reisekameraden blickten sich ratlos an. »Was machen wir nun mit dir?« fragten sie mich. »Haste zu Hause eine Frau oder sonst wen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir können das Häufchen Elend jetzt nicht allein lassen!« meinte Maxe. Mir war alles einerlei, selbst als sie mir zur Aufmunterung den Siegfried Lenz überreichten. Die ganze Reise, die ja streckenweise recht amüsant gewesen war, kam mir nachträglich wie eine einzige Demütigung vor, der Sturz als gerechte Bestrafung.
Nachdem sie mir befohlen hatten, vertrauensvoll auf meinem unbequemen Drahtstuhl zu verharren, gingen sie ein Bier trinken und telefonieren. Bahnhöfe waren seit Jahrzehnten meine Welt, mein Zuhause, aber plötzlich fühlte ich mich hier so fremd und verlassen wie ein ausgesetztes Kind und schämte mich gleichzeitig dafür. Ich hoffte nur, daß mich kein Kollege in diesem Zustand erkannte. Bis sich Tom und Maxe nach etwa zehn Minuten wieder zu mir gesellten, starrte ich nur die Autogrammkarte an und wagte nicht, den Blick zu heben. »Hilf mir, Siegfried«, bat ich, »du darfst auch neben Hermann auf meinem Nachttisch stehen.«
Als Tom zurückkam, sagte er zufrieden: »Alles geritzt, ein Kumpel vom Großmarkt holt uns gleich hier ab.«
»Und ich?«
»Dich nehmen wir mit«, sagte er.
Schließlich brachten sie mich zu einem Kleinlaster, der wohl eher für Viehzeug als für Krankentransporte gedacht war. Ich wurde auf der hinteren Bank in eine Pferdedecke gewickelt, meine beiden Retter setzten sich zu ihrem Freund nach vorn. Worüber sie die ganze lange Fahrt gesprochen haben, kann ich nicht sagen, denn sie bedienten sich eines rauhen Dialekts. Draußen schneite es.
Als wir nach zwei Stunden in einem kleinen Ort ankamen, wurde Maxe vor einem Reihenhaus abgesetzt, wenig später zog Tom mich ebenfalls heraus, und der Lieferwagen fuhr davon. Es war sehr dunkel, als wir durch ein Hoftor traten und von einem angeketteten Schäferhund begrüßt wurden. »Fall nicht schon wieder auf die Schnauze«, sagte Tom, denn ich war sofort über einen herumliegenden Autoreifen gestolpert.
Tom befreite den Hund, der uns in eine ausgekühlte Küche begleitete. Es dauerte nicht lange, da brannte ein Holzfeuer im Ofen, und ein zusätzlicher Radiator verbreitete wohlige Wärme. Tom gab dem Hund zu fressen und erhitzte Gänseschmalz in einer Pfanne. Ich war sehr müde, vielleicht sogar fiebrig, und verfolgte seine Handgriffe wie in einem Wachtraum. Bald gab es Bratkartoffeln, Spiegeleier, Blutwurst und Bier, und kurz darauf zeigte mir Tom eine Kammer mit einem Alkoven.
»Schlaf gut, du tapferes Schaffnerlein. Morgen bring ich dich nach Hause. Du hast die Wahl: LKW oder Motorrad«, sagte er und ließ mich allein.
Ich streckte mich auf einer dreiteiligen Matratze aus und deckte mich mit einem klammen Federbett zu. Der Inhalt des Plumeaus schien sich in der rechten unteren Ecke in einen Stein verwandelt zu haben, der Rest war eine leere Hülle. Trotzdem schlief ich bald ein, denn ich hatte in meinem bisherigen Leben kaum jemals drei Flaschen Bier getrunken und noch nie eine Zigarette geraucht.
Es war bereits neun, als ich durstig und mit schmerzenden Gliedern erwachte. Mühsam humpelte ich in die Küche, wo Tom auf einer ausrangierten Kirchenbank beim Kaffee saß. Er müsse fort, um bei einer Wohnungsauflösung einen Kostenvoranschlag zu machen, sagte er, aber leider fahre er nicht in meine Gegend, sondern in die andere Richtung. Spätestens am Nachmittag sei er zurück und werde mich heimbringen. »Mach’s dir gemütlich«, sagte er, »der Kaffee ist noch heiß, Brot liegt im Schrank.«
Kaum war Tom fort, als ich den harten Kanten mit Leberwurst bestrich und ihn an den Hund verfütterte, der trotz der Kälte angeleint in seiner zugigen Hütte lag. Nach dieser Mahlzeit schien er mich als Freund zu betrachten, und ich befreite ihn von seiner Kette. Als ob er mir etwas zeigen wollte, sauste der Köter sofort in eine Scheune, und ich hinkte hinterher. Trotz meiner Schmerzen erwachte die Neugier. Was mochte dort wohl alles lagern?
Während der Hund nach Ratten jagte, bahnte ich mir niesend und hustend den Weg durch unsägliches Gerümpel. Was sollte
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