Liebe Isländer: Roman (German Edition)
D u liegst hinten in einem Lappländer. Die Nacht des 17. Januar ist angebrochen, es sind exakt vierzehn Grad minus, und du versuchst einzuschlafen. Du hast deine langen Wollunterhosen – Vaterländer genannt –, einen Fleecepullover und Wollsocken angezogen, du trägst eine Mütze und liegst im Schlafsack unter einer Daunendecke hinten in einem Volvo Lappländer. Du hast die Gardinen vor alle Fenster gezogen, so dass das Auto von innen wie ausgepolstert scheint. Es ist stockdunkel. Wie in einem Sarg. Und du überlegst, ob du nicht verrückt, tot oder einfach nur blöd bist. Abgesehen vom leisen Leerlaufschnarchen des Lastwagens nebenan herrscht Totenstille. Du lauschst den eigenen Atemzügen und siehst, wie sie sich auf dem Schlafsack vor deinem Gesicht in frostdornige Eisblumen verwandeln. Du machst dir Sorgen, dass das Gas aus dem Campingkocher ausströmen könnte. Und du machst dir Sorgen, dass das Auto vielleicht nicht anspringt, wenn du morgen früh erwachst. Du bist gestresst wegen der Wettervorhersage. Du hast Angst, nicht über die nächste Bergstrecke zu kommen. Die Rundreise nicht zu schaffen. Dass du ein Panikfreak bist. Nur ein kleiner Junge, der den starken Mann markiert.
Früher am Abend bist du rausgefahren aus Reykjavík, geradewegs hinein in den stockdunklen Hvalfjörður. In einer Kurve sind die Scheinwerfer des Wagens ausgegangen, und einen langgezogenen Augenblick lang hast du daran gezweifelt, dass sie jemals wieder für dich scheinen würden. Es war dein Glück, dass genau im gleichen Moment ein tosendes Feuerwerk über Reykjavík losging, so dass du es geschafft hast, wieder auf die Straße einzubiegen. Du hast den Wagen gestoppt, überzeugt davon, dass dies ein Wunder war. Dass die Götter in den nächsten zwei Monaten auf deiner Seite sein werden und dass es dir, dem Wunschkind der Nation, bestimmt ist, deine Rundreise zuschaffen. Am Morgen hast du dann in den Nachrichten gehört, dass das Feuerwerk zu Ehren des fünfzigjährigen Premierministers stattfand, nicht zu deinen.
Du hast den Wagen angehalten, dir mit zitternden Händen eine Zigarette angesteckt und dabei in die Augen des erschrockenen, orangefarbenen Gesichts in der Frontscheibe geblickt. Es schien zu überlegen, was du da treibst. Ob es nicht das Beste für dich wäre, einfach umzukehren und dich nach Hause zu bringen. Du hast das Streichholz ausgeblasen, und das Gesicht verschwand wieder. Das Wunder am Himmel tröpfelte in die Stadt hinein. Der grinsende Mond wickelte sich in ein paar Wolken und machte sich davon. Und du fuhrst wieder los.
Du befindest dich in Borgarnes. Liegst hinten im Lappländer und bist endlich am Einschlafen. Doch da merkst du, dass du mal musst. Du überlegst, ob du es riskieren sollst, zu viel Wärme zu verlieren, wenn du dich aufraffst. Du fühlst dich wie ein Held. Du fühlst dich wie ein Idiot. Als dir die Augen wieder zufallen, geht dir durch den Kopf, dass du ein echtes Problem hast, wenn du einpieselst.
Aisländ
Hin und wieder hieß es, wir Isländer seien mit amerikanischem Kaugummi im Maul in die Gegenwart hineingestolpert. Daher ist es vielleicht kein Zufall, dass Island auf der Weltkarte ein wenig an einen breitgetretenen Kaugummi erinnert. Es könnte sein, dass der Schöpfer der Karte ihn ausgespuckt hat, kurz vor der Fertigstellung seines Werks. Ich weiß nicht, ob wir Isländer alles Wrigley’s zu verdanken haben, doch Island erinnert mich tatsächlich häufig an einen Kaugummi. Einen abstoßenden Kaugummi, auf dem man lange Zeit gedankenlos und routiniert herumkaut, bis man plötzlich bemerkt, dass er schon lange den Geschmack verloren hat, und ihn ausspuckt, einen schlechten Nachgeschmack im Mund zurückbehaltend. Fast mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein.
Nachdem ich Island wieder und wieder ausgespuckt hatte und ins Ausland abgehauen war, nur um dort zu sein, wo ich vorher nicht gewesen bin, fasste ich den Entschluss, so viel Island wie möglich in mich hineinzustopfen, so viel ich könnte. So zu versuchen, den Geschmack zu erneuern und mich mit dem Land auszusöhnen. Mich selbst vom Gegenteil der Annahme zu überzeugen, dass es sich am besten aus der Ferne ausnahm. Ich beschloss, mir zwei Monate Zeit zu nehmen, um meine Rundreise zu machen, meinen Ring zu fahren und unterwegs der Nation die Hand zu reichen.
Von Anfang an kam nichts anderes in Frage, als die Reise im Januar und Februar zu machen. Das sind eindeutig die isländischsten Monate. Wir füllen uns dann mit
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