Falsches Blut
rückwärtigen Seite des Lagerhauses, die an das Wäldchen angrenzte. In diesem Moment registrierte ich eine Bewegung im Gebüsch vor mir und rannte los. Meine Lunge brannte. Ich hatte nur noch zwei Patronen übrig. Ich hätte eine zweite Waffe mitnehmen sollen, schoss es mir durch den Kopf.
Das Wäldchen war dichter, als es den Anschein gehabt hatte. So schnell ich konnte, preschte ich durchs Unterholz. Dabei stolperte ich immer wieder über Wurzeln, und als ich der Länge nach hinfiel, bohrten sich Dornen in meine Hände und das Gesicht. Ich ignorierte den Schmerz und konzentrierte mich auf das Rascheln von Laub und das Knacken von Zweigen. Weinte da gerade meine kleine Tochter?
» Ich komme! « , schrie ich aus Leibeskräften, doch meine Stimme klang eher wie das Knurren eines wilden Tieres – offenbar war es so bedrohlich, dass die Gestalt, die ich verfolgte, stehen blieb und sich umdrehte. Ich hatte mich mittlerweile dicht genug an sie herangearbeitet, dass ich ihr Gesicht im Mondschein ausmachen konnte. Ich lief weiter über das lockere Erdreich, das sich wie Schnee unter meinen Füßen anfühlte. Zweige schlugen mir ins Gesicht.
Ich stürzte noch zwei Mal, rappelte mich jedoch sofort wieder auf, ohne mein Tempo zu drosseln. Vor mir erhob sich ein Hügel. Ich sah, dass die Gestalt an ihrem Fuß stehen blieb. Es war Azrael. Meine Tochter zappelte und schrie, als er ihr ein Messer an die Kehle hielt.
Ich hob die Waffe und zielte. Meine Hand zitterte.
» Stillhalten, Megan « , befahl ich zwischen zwei Atemzügen. Der Schweiß rann mir über die Stirn in die Augen und an der Nase entlang. Meine Brust hob und senkte sich unter meinen Atemzügen. » Alles wird gut, Schatz. Ich bin hier. «
» Zurück « , befahl Azrael und drückte Megans Kopf nach hinten, um ihre Kehle zu entblößen. » Sonst bringe ich sie um. «
» Es ist vorbei « , sagte ich. Mein Herzschlag hämmerte von der Anstrengung. » Lassen Sie sie los. «
» Nein. «
Ich trat einen Schritt vor. Wieder riss Azrael den Kopf meiner Tochter nach hinten. Beschwichtigend hob ich abermals die Hände.
» Sie ist vier Jahre alt. Ihr Name ist Megan. Sie liebt Labyrinthe. Sie malt Bilder von ihrer Familie. Und sie singt Lieder, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter erfunden hat. Sie ist noch ein Kind. Lassen Sie sie los. «
Ich trat einen kleinen Schritt vor, doch Azrael machte keinerlei Anstalten, von ihr abzulassen. Ich traute meinem Revolver nicht, außerdem war ich so erschöpft, dass ich bezweifelte, meinen Arm ruhig genug halten zu können, um ihn zu treffen, ohne meine Tochter dabei zu verletzen. Mein Atem kam stoßweise. » Ihre beste Freundin heißt Sarah. Sie gehen gemeinsam zum Schwimmkurs. «
Azrael senkte den Bick. Ich sah, dass er seinen Griff um das Messer verstärkte, als ich einen weiteren Schritt näher trat. » Sie will einmal Krankenschwester werden wie ihre Mom. Ihr Lieblingsessen ist Guacamole. Bitte. Lassen Sie sie los. Sie ist noch ein Kind. «
Azrael umklammerte das Messer. Ich sah, dass er schluckte. » Zurück, Mann « , sagte er. » Ich weiß genau, was… «
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen.
Ein Schuss ertönte, eine Blutfontäne spritzte auf, dann brach Azrael vor meinen Augen zusammen. Mike Bowers stand etwa zehn Meter mit einem Präzisionsgewehr neben mir. » Holen Sie Ihre Tochter. «
27
Die Rettungssanitäter verarzteten uns am Tatort, so gut es ging. Ich hätte ohne Weiteres gehen können, doch da Hannah schwanger war, bestanden sie darauf, dass sie erst von einem Arzt angesehen wurde, ehe sie nach Hause entlassen werden konnte. Die Schwestern in der Notaufnahme kümmerten sich um meine Schnittwunden, während ein Arzt im Praktikum Gelegenheit bekam, an mir seine Fähigkeiten im Nähen zu verbessern. Nach Hannahs und meinem Schulterverband zu schließen, würden wir uns schon bald mit zueinander passenden Narben brüsten können. Es war beinahe romantisch. Megan hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen und würde den Vorfall mit ein bisschen Glück irgendwann wieder vergessen haben.
Als wir fertig waren, wurde Hannah in einen Rollstuhl gesetzt und in ein Krankenzimmer gebracht, wo sie über Nacht zur Beobachtung bleiben sollte. Megan wich nicht von ihrer Seite, und die Schwestern brachten es nicht übers Herz, die beiden voneinander zu trennen. Mit mir hatten sie da schon weniger Probleme: Sie schoben mich in einen Warteraum ab, wo ich in einem gepolsterten Sessel so tief und fest schlief wie
Weitere Kostenlose Bücher