Falsches Blut
tatsächlich ein Schreiben von der juristischen Fakultät eingetroffen, ähnlich verklausuliert wie das Begleitschreiben, das meiner jüngsten Kreditkartenabrechnung beigelegen hatte. Ich hatte es dreimal lesen müssen, bis ich endlich verstand, was sie von mir wollten. Da der Dekan mich nach meinem Ausbruch in Professor Ruiz’ Vorlesung telefonisch nicht hatte erreichen können, hatte das Disziplinargremium entschieden, über mein Schicksal zu entscheiden, ohne mich vorher angehört zu haben. Offenbar hielten auch sie Ruiz für einen miesen Dreckskerl, denn sie waren zu dem Schluss gelangt, mich nicht zu exmatrikulieren. Stattdessen entließen sie mich aus seiner Vorlesung und legten mir nahe, sie während des kommenden Wintersemesters auch nicht mehr bei ihm zu belegen– dieser Bitte konnte ich ohne Weiteres nachkommen.
Ich ging wieder hinaus auf die Veranda. Im Augenblick wusste ich noch nicht einmal, ob ich an die Uni zurück oder überhaupt meinen Job wiederhaben wollte. Fest stand nur, dass meine Familie in Sicherheit war, und mehr zählte für mich nicht. Ich setzte mich neben Hannah auf die Stufen und legte ihr die Hand aufs Knie.
» Und? Irgendetwas Interessantes? « , fragte sie.
» Nichts Weltbewegendes « , antwortete ich.
Hannah legte ihre Hand auf meine, und ein paar Minuten lang sahen wir Megan beim Malen zu. Vor zwölf Stunden hatte sie noch herzzerreißend in meinen Armen geschluchzt, und nun spielte sie völlig unbekümmert vor dem Haus. Ich wünschte, alles ließe sich so einfach in Ordnung bringen.
» Hast du deine Schwester schon angerufen? « , fragte ich.
Hannah nickte. » Ihr und Jack geht es gut. Sie haben sich ein bisschen gewundert, dass wir nicht da waren, als sie gestern nach Hause kamen, aber ansonsten ist alles bestens. «
Erleichtert stieß ich den Atem aus und lehnte mich zurück. » Gut « , sagte ich. » Ich habe mir überlegt, eine kleine Auszeit zu nehmen. Vielleicht könnten wir ja ein paar Tage wegfahren. «
Hannah drückte meine Hand. » Das wäre schön. «
An diesem Abend trank ich nichts. Weil ich keinen Drink brauchte. Ich wusste, dass die Träume irgendwann wiederkommen würden. Es würde eine Woche oder auch einen Monat dauern, aber sie würden wiederkommen. Wahrscheinlich dann, wenn ich das nächste Mal Menschen sagen musste, dass sie ihr Liebstes auf der Welt verloren hatten. Ich würde in ihre Gesichter sehen und mit ihnen leiden, einen abgrundtiefen und alles verschlingenden Schmerz empfinden, vor dem es kein Entrinnen gibt. Das ist die Strafe für all die Fehler, die ich in meinem Leben begangen habe. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um sich damit auseinanderzusetzen. Noch nicht. Für kurze Zeit durfte ich den Frieden genießen, den ich mir selbst nicht verdienen konnte.
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