Falsetto
besonders Kluges. Im Geiste sah er Kapaune, jene ent-mannten Vögel, gerupft und küchenfertig am Fleischerhaken baumeln. Er sah die Spiegel, die ringsum in der Fechthalle angebracht waren, und in ihnen gespiegelt sah er die jungen Männer im Saal, gekleidet in dunkle Hosen und weiße Hemden...
Es war still im Raum geworden. Langsam drehte er sich um.
Der junge Toskaner starrte ihn an. Tonio schien es, als höre er ein vielstimmiges Flüstern im Raum, das sich überall unter den jungen Männern erhob, mit denen er hier gewetteifert und ge-kämpft und die er besiegt hatte. Er stand ganz still da, mit zusammengekniffenen Augen, während er wartete, daß sich das Flüstern zu Worten formte, die er verstehen konnte.
Dann wurde er jedoch undeutlich gewahr, daß der junge Toskaner nervös war. Den anderen war offensichtlich ebenfalls unbehaglich zumute, denn Tonio konnte regelrecht fühlen, wie sich eine große Welle der Vorsicht im Raum ausbreitete. Er sah die ausdruckslosen, beinahe verdrossenen Gesichter dieser Süditaliener, er roch ihren Schweiß.
Er spürte, daß der junge Toskaner Angst hatte, und sah, wie sich diese Angst zu Panik steigerte, begleitet von einem verzweifelten und selbstzerstörerischen Stolz.
»Ich kreuze meine Klinge nicht mit Kapaunen!« rief der Junge jetzt schrill, und selbst die abgebrühten Süditaliener zeigten sich ein wenig erschrocken.
Da kam Tonio ein merkwürdiger Gedanke. Er sah, wie dumm dieser Junge war, sah, daß der Toskaner lieber sterben wür-de, als vor dieser kleinen Schar sein Gesicht zu verlieren. Tonio zweifelte nicht daran, daß er ihn töten könnte. Niemand beherrschte die Kunst des Fechtens so gut wie er. Aber obwohl ihn ein eisiger Zorn gepackt hatte, kam ihm das Ganze gleichzeitig höchst sinnlos vor. Er wollte diesen jungen Mann nicht töten. Aber war es nicht so, daß ein richtiger Mann den Wunsch verspüren sollte, ihn zu töten? Ein Mann sollte begreifen, daß diese Beleidigung nicht hingenommen werden durfte.
Es verwirrte ihn, es belastete ihn. Der Junge war ihm unterle-gen! Er tat ihm leid. Aber wenn er jetzt nicht zu einer Entscheidung kam, dann würde dieses Dilemma ihn auf ewig schwächen.
Es war, als könne er sich aus großer Entfernung beobachten, während seine Augen schmal wurden und er den anderen wütend anfunkelte. Dann hob er langsam seinen Degen.
Der Toskaner zog sein Rapier, es sirrte laut, als es aus der Scheide fuhr, und griff Tonio an. Der Mund des Jungen war von Furcht und Zorn verzerrt. Tonio parierte unverzüglich und schlitzte ihm den Hals auf.
Der Toskaner ließ die Klinge fallen, rang nach Luft, griff sich mit beiden Händen an die Wunde.
Dann kam rasch stummes Leben in den gesamten Raum. Ei-ne Handvoll junger Männer scharten sich um Tonio, um ihn zurückzudrängen, andere umringten den Toskaner. Tonio sah, wie Blut das Hemd des Jungen durchtränkte. Der Fechtmeister bestand darauf, daß sie eine Zeit und einen Ort im Freien festlegten.
Auf dem ganzen Rückweg zum Conservatorio mußte Tonio immer wieder an jene wirren Momente, an die jungen Männer, die ihn umringten, an die zwanglose und freundliche Berührung ihrer Hände denken.
Noch am selben Abend kam ein junger sizilianischer Adeliger zu ihm, um ihm zu sagen, daß der Junge seine Sachen gepackt hatte und geflohen war. Auf dem Gesicht des dunkelhäutigen jungen Mannes lag ein verächtliches Grinsen, als er Tonio das eröffnete, ohne es weiter zu kommentieren. Dann blieb er zögernd in dem formell ausgeschmückten Empfangs-zimmer des Conservatorio stehen und bat Tonio, irgendwann demnächst einmal mit ihm auf die Jagd zu gehen. Er und seine Freunde ritten regelmäßig in die Berge, und seine Gesellschaft wäre ihnen sehr willkommen, erklärte er. Tonio dankte ihm für die Einladung, ohne jedoch zu sagen, ob er sie überhaupt annehmen würde.
13
Weitere sieben Monate vergingen, bevor Tonio von Marianna persönlich einen Brief bekommen sollte, in dem sie ihm die Geburt ihres zweiten Sohnes mitteilte.
Er war so erschüttert, daß er den Brief den ganzen Tag mit sich herumtrug und ihn erst öffnete, als er allein am Meeres-ufer stand.
Er hoffte, daß er, wenn er das Tosen der See in den Ohren hatte, ihre Stimme, die für ihn ebenso bedrohlich war wie der Gesang der Sirenen, nicht hören würde.
Keine Stunde vergeht, in der ich nicht an Dich denke, in der ich keinen Schmerz empfinde, in der ich mir nicht die Schuld für Deine übereilte und schreckliche Entscheidung
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