Falsetto
so daß der Junge jetzt seine Ruhe gefunden hätte.
»Ach?« lachte ich. »Was sind denn das für schreckliche Worte. Warum denn? Nach allem, was man so hört, geht es ihm doch bemerkenswert gut!«
»Aber was ist, wenn er bei irgendeinem törichten De-genkampf getötet wird?« wollte er wissen. »Ich mache mir Tag und Nacht Sorgen um ihn.« Er hätte Dir niemals die Degen schicken sollen, um die Du ihn gebeten hattest. »Einen Degen kann er überall erwerben«, bemerkte ich. »Mein kleiner Bruder, mein kleiner Bruder«, sagte er mit soviel Gefühl, daß es die Zuschauer in einem Theater zu Tränen gerührt hätte. »Wenn du wüßtest, was ich ertragen habe!« Dann aber wandte er sich von mir ab, so als könne er jemandem wie mir, der so schlichten Gemüts und so ganz ohne Mitgefühl ist, nicht anvertrauen, wie sehr er das alles bedauert!
Aber im Ernst, Tonio, ich bitte Dich, sei vorsichtig und schlau. Wenn er noch mehr von Deiner Fechtkunst hört, dann fühlt er sich vielleicht gezwungen, zu Deinem Schutze ein paar Bravos nach Neapel zu schik-ken. Ich denke, Du würdest Dich in Gesellschaft solcher Männer eingeengt, wenn nicht sogar erdrückt fühlen. Tonio, sei wachsam und schlau.
Und was die Bühne angeht, wie kann Dir jemand die Gabe, die Gott Dir schenkte, Deine Stimme, mißgönnen? Wenn ich nachts wach liege, dann höre ich Dich singen. Ich wünschte, ich könnte Deine Stimme eines Tages wirklich wieder hören und Dich in meine Arme schließen, um Dir zu zeigen, wie sehr ich Dich liebe und immer geliebt habe. Dein Bruder ist ein Narr, wenn er sich nicht darauf einstellt, daß Du noch Großes vollbringen wirst.
Diesen Brief behielt Tonio lange Zeit bei sich, bevor er ihn schließlich wie so viele vor ihm verbrannte.
Er hatte ihn sehr amüsiert und auf merkwürdige Weise fasziniert. Sein Haß auf Carlo wurde nun mit einer neuen und hei-
ßeren Flamme genährt.
Nur zu deutlich sah er seinen Bruder vom Becher jenes Lebens trinken, das Venedig hieß! Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie er vom Ballsaal zum Senat ging, zum Ridotto und dann zu einer Kurtisane.
Doch Catrinas freundliche Warnungen waren bei Tonio alle in den Wind gesprochen. Er änderte an seinem Leben nichts.
In der Fechthalle war er engagiert wie immer. Wenn er die Zeit dazu fand, vervollkommnete er seine Treffsicherheit mit der Pistole. Allein in seinem Zimmer übte er den gekonnten Um-gang mit dem Stilett.
Aber es war weder Kampfeslust noch Mut, was ihn dazu veranlaßte, gegenüber Giacomo Lisani ein so gebieterisches Verhalten zu zeigen und sich gerade jetzt um solch offensichtliche Kunstfertigkeit im Gebrauch der Waffen zu bemühen.
Es war einfach die Tatsache, daß er vor niemandem verbergen konnte, was er in jeder Hinsicht war.
Immer deutlicher konnte er in den Blicken jener, denen er begegnete, lesen, daß sie wußten, daß er ein Eunuch war. Aber die Blicke der jungen Neapolitaner sagten ihm auch, daß er ihre uneingeschränkte Achtung gewonnen hatte.
Was die Bühne anging - sein Bestreben, ein zweiter Caffarelli zu werden, wie Catarina es ausgedrückt hatte -, so wünschte er sich, in der Oper zu singen, und fürchtete sich gleichzeitig so sehr davor, daß er sich manchmal über sich selbst wundern mußte.
Er war vom Applaus berauscht, von den Farben, der Pracht der herrlichen Bühnenbilder und dem Augenblick, wenn er hörte, wie sich seine Stimme klar über die der andern erhob und vor dem Publikum ihre unerklärliche und machtvolle Magie entfaltete.
Wenn er jedoch an die großen Theater dachte, erfüllte ihn das mit einer seltsam erregenden Furcht.
»Zwei Kinder innerhalb von zwei Jahren!«
Manchmal traf ihn das mit solcher Klarheit und Gewalt, daß er wie angewurzelt stehenblieb. Zwei Kinder, beides gesunde Söhne!
Manch eine venezianische Familie hatte nur diesen Anspruch auf Unsterblichkeit. Und er wünschte sich, oh, wie er sich von ganzem Herzen wünschte, daß seine Mutter und sein Vater ihm ein klein wenig mehr Zeit zugestanden hätten!
14
Es war Mittag. Tonio ging gerade auf der belebten Via di Toledo spazieren, als ihm klar wurde, daß er an diesem Tag, dem ersten Mai, seit genau drei Jahren in Neapel war.
Es erschien unmöglich. Dann wieder kam es ihm so vor, als wäre er schon sein ganzes Leben hier und hätte nie eine andere Welt kennengelernt.
Er blieb einen Moment wie verloren in der Menge stehen.
Dann drehte er sich um, sah zum makellos blauen Himmel hinauf und spürte die Brise so sanft und
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