Falsetto
einem Libretto von Metastasio und mit der Musik von Domenico Sarri, der bei den Neapo-litanern schon seit vielen Jahren beliebt war.
Man hatte einen der größten Bühnenbildner dieser Zeit, Pietro Righini, beauftragt, und die Inzenierung war in der Tat großartig.
Guido und Tonio saßen vorne im Parterre auf ausladenden Sitzen mit Armlehnen, die man für die Spielzeit abonnieren konnte. Der Abonnent konnte seinen Sitz absperren, so daß ihm niemand den Platz wegnehmen konnte. Es war deshalb egal, wie spät er kam. Die Reihen waren außerdem so weit auseinandergezogen, daß man zu seinem Platz gehen konnte, ohne jemanden zu stören.
Natürlich wußte jedermann, daß sich der Monarch nichts aus Opern machte. Man witzelte, er hätte ein so geräumiges Theater bauen lassen, damit er selbst so weit wie möglich von der Bühne entfernt sitzen konnte.
Ganz Europa hatte den Blick jedoch mehr denn je nach Neapel gerichtet. Die Sänger, die Komponisten, die Musik dieser Stadt hatten die Venedigs ganz und gar verdrängt. Rom hatten sie schon vor langer Zeit in den Schatten gestellt.
Rom war jedoch immer noch die Stadt, in der ein Kastrat sein Debüt gab. Rom brachte vielleicht keine Sänger und Komponisten hervor, aber Rom war Rom. Guido erinnerte Tonio ständig daran.
Tonio machte erstaunliche Fortschritte. Obwohl er in der Herbstoper des Conservatorio vier Arien gesungen hatte und am Abend stets mit Guido ausging, nahm er immer noch einige Mahlzeiten mit seinen Mitschülern ein, mit denen er auch die Nachmittagspause verbrachte. Außerdem erledigte er zusammen mit ihnen all die niedrigen Aufgaben, die ihm hinter der Bühne übertragen worden waren.
Einige Zeit nach seinem zweiten Weihnachten in Neapel hatte Tonio jedoch einen Zusammenstoß mit einem anderen Fecht-schüler, der sich als ebenso gefährlich erwies wie sein Kampf mit Lorenzo im vorangegangenen Jahr.
Es geschah an einem Tag, an dem Tonio sehr bedrückt war.
Er ging mit einer ungewohnten Schwerfälligkeit durch die Welt und war gegenüber allem, was er sah und hörte, gleichgültig.
An diesem Morgen hatte ihn nämlich einer von Catrina Lisanis Briefen darüber informiert, daß seine Mutter einem gesunden Sohn das Leben geschenkt hatte. Das Kind war vor fünf Monaten geboren worden, war also schon seit fast einem halben Jahr auf der Welt.
Eine lähmende Mattigkeit hatte Tonio befallen. Plötzlich merkte er, daß er still ein kleines Gebet zum Himmel schickte. Mö-
gest du kräftig und intelligent sein, flüsterte er lautlos. Mögest du von Gott und den Menschen gesegnet werden. Und wenn ich bei deiner Taufe dabeisein könnte, dann würde ich deine zarte kleine Stirn küssen.
Ein Bild kam ihm, anscheinend ganz von selbst, in den Sinn.
Er sah sich, eine große und weiße Gestalt, ein Spinnenwesen, durch die feuchten und modernden Räume des Palazzo Treschi wandern. Er sah seinen endlosen Arm ausgestreckt, um die Wiege des Kindes zu schaukeln. Und er sah seine Mutter weinen.
Warum weinte sie? Seine Gedanken sammelten sich langsam, da erkannte er, daß sie weinte, weil er ihren Mann ermordet hatte. Carlo war tot. Sie trug wieder Trauer, und all die Kerzen, die er sich so herrlich vorgestellt hatte, waren erloschen. Kleine Rauchfäden stiegen von den Dochten auf. Der Gestank vom Kanal zog durch die Flure, so dicht und deutlich sichtbar wie Winternebel.
»Ach«, hatte er schließlich laut gesagt, während er das steife Pergamentblatt zusammenfaltete, »was hast du gewollt, Tonio? Ein bißchen mehr Zeit?«
Ein weiterer Schritt war getan, ein weiterer Schritt. In Catrinas Brief stand, daß Marianna bereits wieder schwanger war!
Als er also in der Fechthalle eintraf, hatte er sich beim Eintreten an einem jungen Toskaner aus Siena vorbeigedrängt. Er war unachtsam gewesen, das war alles.
Während er sich jedoch auf seinen ersten Fechtkampf vorbe-reitete, hörte er ein wütendes Knurren hinter sich. Als er den Blick hob, spürte er jenes merkwürdige Gefühl der Desorien-tierung, das ihn damals vor Jahren auf der PiazzaSan Marco überfallen hatte, als er zum ersten Mal von Carlo gehört hatte.
Er stand da und verharrte reglos. Einen erschreckenden Moment lang schien es, als würde er in einen Traum gleiten.
Dann heftete er den Blick auf den polierten Boden vor sich, die hohen Fenster, den langen und kahlen Raum. Deutlich war zu hören: »Ein Eunuch? Ich wußte gar nicht, daß Kapaune einen Degen tragen dürfen.« Das war nichts Unerwartetes, nichts
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