Falsetto
gebe. Du bist für mich nicht verloren, ganz gleich, wie sehr Du dagegen Einspruch erhebst, ganz gleich, wie rücksichtslos und boshaft der Weg ist, den Du eingeschlagen hast.
Dein kleiner Bruder Marcello Antonio Treschi wurde vor einer Woche in diesem Haus geboren. Kein Kind jedoch nimmt den Platz in meinem Herzen ein, den Du inne hast.
Nur wenige Tage trennten Tonio noch von seiner ersten Hauptrolle in einer Oper, die Guido für die Bühne des Conservatorio geschrieben hatte. Er wußte, daß er nicht würde auftreten können, wenn er diesen Brief nicht vergaß.
Er stürzte sich auf beinahe törichte Weise in die Arbeit, je nä-
her die Premiere rückte, und sein Wille ließ ihn nicht im Stich.
An jenem Abend dachte er an nichts anderes als an die Musik.
Er war Tonio Treschi aus dem Conservatorio, und hinterher, als nur ein wilder Liebesakt das Echo des Applauses in seinen Ohren zum Schweigen bringen könnte, war er Guidos Geliebter.
Aber an den Tagen, die diesem kleinen Triumph folgten, ließ ihn der Gedanke an seine Mutter nicht mehr los. Obwohl kaum noch etwas von jener Liebe, die er einst für sie empfunden hatte, vorhanden war, war doch die Erinnerung an ihre Schönheit und ihre gelegentliche Zärtlichkeit geblieben.
Sie war jetzt Carlos Frau, sie gehörte ihm. Wie aber war es möglich, daß sie ihm geglaubt hatte! Denn das war ganz zweifellos der Fall.
Obwohl Tonio eine fast blinde Wut empfand, kannte er natürlich die Antwort. Sie hatte Carlo geglaubt, weil sie es mußte, sie hatte ihm geglaubt, um weiterleben zu können, sie hatte ihm geglaubt, um ihrem leeren Zimmer und ihrem leeren Bett zu entfliehen. Was hätte es denn außer Carlo in diesem Haus für sie gegeben?
Manchmal, wenn ihm diese Gedanken unablässig im Kopf kreisten, konnte er der Erinnerung an ihr früheres Unglück, ihre Einsamkeit, an ihre plötzlichen Wutausbrüche, an die zu denken ihn selbst jetzt noch frösteln ließ, nicht entkommen.
In einem Kloster eingesperrt, wäre sie gestorben, dessen war er sich sicher, und sein Bruder, sein mächtiger und schlauer Bruder, sein Bruder, dem Unrecht getan worden war, sein selbstgerechter und halsstarriger Bruder hätte sich eine andere Frau genommen.
Nein, sie hatte keine Alternative gehabt. Mit diesem Mann zu leben, ohne von ihm geliebt zu werden, wäre für sie ebenso unerträglich gewesen, wie den Rest ihres Lebens in einer Klo-sterzelle zu verbringen. Sie brauchte die Liebe dieses Mannes ebensosehr, wie sie seinen Schutz und seinen Namen brauchte. Was hatten ihr denn ein Name und der Schutz, den dieser gewährte, in der Vergangenheit gebracht?
»Und ich werde sie in ihre Einsamkeit zurückschicken«, sin-nierte er. »Ich werde sie in ihr Kloster zurückschicken...« Er sah sie ein weiteres Mal mit dem schwarzen Witwenschleier.
Das war für ihn Wirklichkeit, wirklicher als die Bilder, die dieser Brief heraufbeschwor, die Bilder von Säuglingen, die getauft wurden, Bilder von einem Leben in jenem Haus, wie er es selbst nie gekannt hatte.
Sie wandte sich ihm zu, sie beschimpfte ihn. Sie hatte die Fäuste geballt, verfluchte ihn. Über die Entfernung von Zeit und Raum und über den verschwommenen Ausblick in eine mögliche Zukunft hinweg hörte er ihre Schreie. »Ich bin hilflos«, und sein Zorn ging unerbittlich an ihr vorbei, so daß sie ein Schatten wurde, nicht in der Lage, das, was vor ihm lag, zu beeinflussen, genausowenig wie sie je die Vergangenheit beeinflußt hatte.
Sie war für ihn verloren, wirklich verloren. Dennoch umflorten sich seine Augen immer wieder, wenn er an sie dachte. Er wandte sich heftig und klopfenden Herzens ab, wenn er dunkel gekleidete Frauen sah, Witwen, alt oder jung, wie sie überall in den Kirchen ihre Kerzen anzündeten, vor den Altären knieten und in schwarzen Trauben mit ihren alten Dienern durch die Straßen gingen.
Von überall her erhielt er jetzt Einladungen, in denen er gebeten wurde, auf privaten Soupers und Konzerten zu singen.
Einmal wagte er sich in das Haus der alten Marchesa, die er an seinem ersten Abend bei der Contessa Lamberti getroffen hatte.
Mit der Zeit jedoch lehnte er nur noch bedauernd ab, ganz gleich, von wem die Einladung kam.
Guido war natürlich wütend.
»Es ist wichtig, daß dich die Leute hören!« beharrte er. »Man muß dich in den großen Häusern sehen und hören. Tonio, die Besucher aus dem Ausland müssen dich sehen, begreifst du das denn nicht?«
»Nun, sie können mich ja hier hören und sehen«,
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