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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war Venedig, Venedig mit seinen verwinkelten Gassen und den riesigen Zimmern, die für ihn so viele Jahre lang seine Welt gewesen waren. Und als ihm all das in einem einzigen Augenblick genommen worden war, hatte es ihn nackt, monströs und gedemütigt zurückgelassen.
    Auf Tonios Lippen zeigte sich ein ganz leises, freundliches Lä-
    cheln. Er setzte sich in den Sessel, den Alessandro ihm stumm angeboten hatte, und beobachtete, wie sich sein ehe-maliger Gesangslehrer mit jener altbekannten, trägen Anmut ihm gegenüber niederließ und nach einer Karaffe mit Rotwein griff.
    Er füllte das Glas neben Tonio. Sie tranken Wein.
    Aber sie sagten nichts.
    Alessandro hatte sich kaum verändert. Selbst das zarte Netz von Linien, das seine Haut durchzog, war ganz genauso, wie es damals gewesen war, ein leichter Schleier, durch den man einen zeitlosen Glanz hindurchstrahlen sehen konnte.
    Er trug einen Morgenmantel aus grauer Wolle, das kastanien-braune Haar fiel ihm lose auf die Schultern herab. Jede Bewegung seiner zarten Hände rief stumme Erinnerungen wach.
    »Ich bin so dankbar, daß du gekommen bist«, sagte Alessandro. »Catrina hat mich schwören lassen, daß ich mich dir nicht nähern werde.«
    Tonio nickte, um dies anzuerkennen. Er hatte Catrina weiß Gott oft genug geschrieben, daß er niemanden aus Venedig empfangen würde.
    »Es gibt einen Grund, weshalb ich zu dir gekommen bin«, antwortete Tonio, aber seine Stimme hörte sich an, als gehöre sie jemand anderem.
    Alessandro schenkte ihm die respektvollste Aufmerksamkeit.
    »Es waren nicht nur die Liebe und die Tatsache, daß ich wissen wollte, wie es dir geht, die mich hierhergeführt haben«, fuhr Tonio fort, »obwohl das schon ausgereicht hätte. Ich hätte ertragen können, all das nicht zu erfahren, dich nie wiederzusehen. Das muß ich zugeben. Denn auf diese Weise hätte ich mir sehr viel Schmerz erspart.«
    Alessandro nickte. »Was war es dann?« fragte er ergeben.
    »Sag mir, was kann ich dir berichten? Was kann ich für dich tun?«
    »Du darfst niemandem sagen, was ich dich jetzt frage: Sind die Bravos meines Bruders Carlo dieselben Männer, die ihm dienten, als ich zuletzt in Venedig war?«
    Alessandro schwieg einen Augenblick, dann antwortete er:
    »Jene Männer verschwanden, nachdem du fort warst. Die staatlichen Inquisitoren suchten überall nach ihnen. Jetzt stehen andere Männer in seinen Diensten, gefährliche Männer...«
    Tonio nickte, aber sein Gesicht blieb ungerührt.
    Es war ganz einfach so, wie er es erhofft hatte. Sie waren geflohen, um ihr Leben zu retten. Sie waren untergetaucht. Eines Tages würde er vielleicht irgendwo einmal jene Gesichter sehen, und er würde die Gelegenheit beim Schopf packen, wenn sie sich ihm bot. Diese Leute waren ihm jedoch nicht wichtig, außerdem war es durchaus denkbar, daß Carlo einen Weg gefunden hatte, sie für immer zum Schweigen zu bringen.
    Es war also ausschließlich Carlo, der ihn jetzt erwartete.
    »Was kann ich dir sonst noch erzählen?« fragte Alessandro.
    Nach einer Pause sagte Tonio: »Was ist mit meiner Mutter, Catrina hat geschrieben, daß sie krank sei.«
    »Sie ist krank, Tonio, sehr krank«, sagte Alessandro. »Innerhalb von drei Jahren hat sie zwei Kinder geboren, sie war mit einem weiteren schwanger, das sie erst vor ganz kurzer Zeit verloren hat.«
    Tonio seufzte und schüttelte den Kopf.
    »Dein Bruder zeigt sich in diesem Punkt ebenso zügellos und unverschämt wie in so vielen anderen Dingen. Aber es ist neben all dem« - Alessandro senkte seine Stimme zu einem Flü-
    stern - »ihre alte Krankheit, Tonio. Du kennst deren Natur.«
    Tonio sah weg, den Kopf hatte er leicht gesenkt.
    Nach einer langen Pause fragte er: »Aber hat er sie denn nicht glücklich gemacht?« Es lag eine leise Verzweiflung in seiner Stimme.
    »So glücklich, wie sie jemand nur machen konnte. Für eine Weile jedenfalls«, sagte Alessandro. Er musterte Tonio. Es schien, als wäge er seine Antwort ab.
    »Sie weint um dich, Tonio«, sagte er. »Sie hat niemals aufgehört, um dich zu weinen. Und als sie erfuhr, daß du in Rom auftreten würdest, wollte sie dich unbedingt sehen. Sie hat mir feierlich aufgetragen, ihr eine Partitur der Oper mitzubringen und mir alles gut zu merken, damit ich es ihr dann genau beschreiben kann.« Er lächelte matt. »Sie liebt dich, Tonio«, sagte er. Dann fügte er mit so leiser Stimme hinzu, daß er kaum noch zu hören war: »Sie befindet sich in einer unmöglichen Lage.«
    Tonio nahm

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