Falsetto
diese Worte still in sich auf, ohne Alessandro dabei anzusehen.
Als er dann zu sprechen anfing, klang seine Stimme angespannt und unnatürlich.
»Und mein Bruder?« fragte er. »Ist er ihr treu?«
»Nun, er genießt sein Leben in vollen Zügen«, sagte Alessandro.
»Weiß sie das?«
»Ich glaube nicht«, sagte Alessandro. »Er ist ihr gegenüber sehr aufmerksam. Von Frauen jedoch kann er nicht genug bekommen, auch nicht vom Spielen und Trinken...«
»Diese Frauen«, sagte Tonio mit monotoner Stimme, berührte jedoch Alessandros Hand, um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, »erzähl mir von ihnen, welche Art von Frauen ist das?«
Alessandro war über diese Frage sichtlich erstaunt. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. »Alle möglichen Arten.«
Er zuckte mit den Achseln. »Die besten der Kurtisanen sicherlich, Ehefrauen, die sich langweilen, hier und da auch einmal ein Mädchen, wenn es besonders hübsch und leicht zu verführen ist. Ich glaube, es zählt für ihn nur, daß sie hübsch sind und daß daraus kein Skandal entsteht.«
Er musterte Tonios Gesicht und versuchte offensichtlich zu erkennen, weshalb das Tonio so wichtig zu sein schien.
»Aber er geht stets klug und diskret vor. Für deine Mutter stellt er Sonne und Mond dar, so klein ist ihre Welt. Das, was sie sich am meisten wünscht, kann er ihr jedoch nicht geben, und das ist... ihr Sohn Tonio.«
Alessandros Gesicht wurde nachdenklich und traurig.
»Sie liebt ihn immer noch«, flüsterte Tonio.
»Ja«, bestätigte Alessandro, »aber wann hatte sie auch nur die kleinste Spur eigenen Willen besessen? Doch ich sage dir, daß es in den vergangenen Monaten Augenblicke gab, in denen sie, um zu dir zu gelangen, ihr Haus zu Fuß verlassen hätte, wenn man sie nicht zurückgehalten hätte.«
Tonio schüttelte den Kopf. Plötzlich vollführte er eine Reihe zielloser Bewegungen, so bemühte er sich, nicht in Tränen auszubrechen. Schließlich lehnte er sich in seinem Sessel zurück und trank von dem Wein, den Alessandro ihm einge-schenkt hatte.
Als er wieder aufsah, waren seine Augen gerötet, sein Blick leer und sehr müde. Er machte mit der Hand eine hilflose Geste. Alessandro beobachtete ihn. Spontan faßte er Tonio bei der Schulter.
»Hör mir zu«, sagte er. »Er ist zu gut bewacht! Tag und Nacht, in seinem Haus und außerhalb folgen ihm vier Bravos.«
Tonio nickte mit einem verzerrten, bitteren Lächeln. »Ich weiß...«, flüsterte er.
»Tonio, es würde nur fehlschlagen, wenn du ihm jemanden schickst, und es würde seine Ängste wecken. In Venedig redet man schon viel zuviel von dir. Nach der Vorstellung letzten Abend wird man noch mehr reden. Geh aus Italien fort, Tonio, warte auf eine günstige Gelegenheit.«
Wieder lächelte Tonio bitter.
»Dann hast du es nie geglaubt?« fragte er leise.
Alessandro verzog mit einem Mal so heftig das Gesicht, daß er nicht mehr er selbst zu sein schien. Er zuckte zusammen, und sein Mund verzerrte sich zu einem höhnischen Grinsen. In düster ironischem Ton sagte er: »Wie kannst du nur fragen?«
Dann kam er ganz dicht an Tonio heran. »Wenn ich könnte, dann würde ich ihn eigenhändig umbringen.«
»Nein«, flüsterte Tonio und schüttelte den Kopf. »Überlaß ihn mir, Alessandro.«
Alessandro lehnte sich wieder zurück. Er sah in seinen Weinbecher und bewegte ihn ganz leicht, so daß sich die Flüssigkeit darin zu drehen anfing. Er hob den Becher an die Lippen, um zu trinken. Schließlich sagte er: »Laß dir Zeit, Tonio, laß dir Zeit, und sei um Himmels willen vorsichtig! Schenke ihm nicht dein Leben. Er hat dir bereits zuviel genommen.«
Tonio lächelte abermals, er nahm Alessandros Hand und drückte sie sanft, um ihn zu trösten.
»Ich bin für dich da«, sagte Alessandro, »wann immer du mich brauchst.«
Es war fast Mittag. Er mußte unbedingt schlafen, aber er konnte es nicht. Nachdem er am Hause des Kardinals vorbeigegangen war, als würde er nicht einmal das Tor erkennen, fand er sich schließlich in einer unbekannten römischen Kirche wieder, die vom Licht und vom Geruch Hunderter von Kerzen erfüllt war.
Gemalte Heilige spähten von vergoldeten Schreinen auf ihn herab, schwarzgekleidete Frauen traten still vor eine Krippe, in der das Jesuskind seine Arme ausbreitete.
An den Nischen entlangwandernd, entdeckte Tonio einen Heiligen, den er noch nie gesehen hatte. Im Dämmerlicht vor dem kleinen Altar kniete er nieder, dann streckte er sich auf dem Steinboden lang aus,
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