Falsetto
Menschenmenge!« Tonio schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt...«
»Wir müssen, und zwar jetzt...«, beharrte Guido und fügte dann mit einem leisen Lächeln hinzu. »Es ist sehr, sehr wichtig, daß wir es tun.«
Tonio erhob sich gehorsam. Ruggerio und Guido, die rechts und links von ihm gingen, schoben ihn durch das Gedränge auf Bettichinos Tür zu, vor der ebenfalls eine Menschenmenge wartete, und dann in die geräumige und hell erleuchtete Garderobe des Sängers. Sie schien in der Tat eher ein Salon zu sein, in dem etwa fünf oder sechs Männer und Frauen bereits beim Wein saßen. Bettichino, der immer noch in Kostüm und Maske war, erhob sich unverzüglich, um Tonio zu begrüßen.
Es herrschte einen kurzen Augenblick Verwirrung, als Bettichino alle Besucher außer Guido aus dem Zimmer schickte.
Guido stand direkt hinter dem Sänger und signalisierte Tonio stumm, er solle gegenüber Bettichino äußerst höflich sein.
Tonio neigte den Kopf. Er sprach leise.
»Signore, ich habe heute abend viel von Ihnen gelernt. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht auf derselben Bühne aufgetreten wären...«
»Ach, hören Sie auf damit«, spottete Bettichino. Er lachte laut heraus. »Verschonen Sie mich mit diesem Unsinn, Signore Treschi«, sagte er. »Wir wissen beide, daß das Ihr Triumph war. Ich muß mich für meine Anhänger entschuldigen, aber ich bezweifle, daß sie die Bühne für einen Rivalen je besser vorbereitet haben.«
Er hielt inne, aber er war noch nicht fertig. Er richtete sich auf, als befände er sich mitten in einer Erörterung. Die Schminke, die er noch trug, der Goldstaub und die weiße Farbe verstärkten dabei noch seinen Gesichtsausdruck.
»Wie Sie wissen«, sagte er, »ist es schon allzulange her, daß ich auf irgendeiner Bühne mein Bestes geben mußte. Heute abend war das jedoch der Fall, und Sie waren es, der dafür gesorgt hat. Dafür danke ich Ihnen, Signore Treschi. Aber begegnen Sie mir morgen abend, übermorgen und an allen folgenden Abenden auf diesen Brettern nicht ohne all das, was Gott Ihnen gegeben hat. Ich bin jetzt auf Sie vorbereitet. Sie werden es brauchen, um gegen mich bestehen zu können.«
Tonio errötete heftig, seine Augen waren feucht. Er lächelte jedoch.
Da breitete Bettichino, so als hätte er Tonios Gedanken gelesen, die Arme aus. Er drückte Tonio einen Augenblick an sich, dann ließ er ihn wieder los.
Tonio befand sich in einem stummen Taumel der Erregung, als er die Tür öffnete. Aber er blieb stehen, denn er hörte, wie Bettichino hinter ihm zu Guido sagte:
»Das ist doch nicht wirklich Ihre erste Oper, Maestro, oder?
Wo werden Sie danach hingehen?«
16
Hunderte von Menschen drängten sich beim offiziellen Empfang, den der Kardinal Calvino gab und der bis zum Morgengrauen dauerte. Die alteingesessenen Familien Roms, Adelige, die auf Besuch waren, selbst Angehörige von Kö-
nigshäusern spazierten durch die riesigen und hell erleuchteten Flure.
Wenn es eine Enttäuschung gab, dann war es, daß Christina Grimaldi nicht gekommen war.
Tonio hielt überall nach ihr Ausschau. Er hätte sie nicht übersehen können und verstand nicht, warum sie nicht da war.
Natürlich war sie im Theater gewesen, er hatte sie ja dort gesehen! Und er hatte Verständnis dafür, daß sie nicht hinter die Bühne kommen konnte. Aber warum war sie nicht hier im Hause des Kardinals?
Die abscheulichsten Gedanken gingen ihm durch den Sinn.
Plötzlich kam es ihm wie ein Alptraum vor, daß sie ihn als Frau verkleidet gesehen hatte. Andererseits aber hatte sie, als er sich vor ihr verbeugt hatte, seine Verbeugung von der Loge der Contessa aus erwidert. Sie hatte nach seinen Arien immer wie wild geklatscht, und er hatte sie selbst über die Distanz, die sie getrennt hatte, ganz deutlich lächeln sehen.
Warum war sie jetzt nicht hier?
Er konnte sich nicht dazu überwinden, Guido oder die Contessa, die stets an seiner Seite war, zu fragen.
Viele waren an diesem Abend gekommen, nur weil der Kardinal Calvino einen Ball gab. Die Contessa hatte sich entschlossen, dafür zu sorgen, daß so viele Gäste wie möglich ihre Musiker kennenlernten und morgen in die Oper kamen, selbst wenn sie noch nie zuvor ein Theater von innen gesehen hatten.
Aber es war schon so gut wie sicher, daß die Oper ein Erfolg werden würde.
Ruggerio war überzeugt, daß sie bis zum Ende des Karnevals laufen würde, und Tonio wie Guido wurden mehrmals während des Abends nach ihren Zukunftsplänen
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