Falsetto
flüsterte sie.
»Warum hast du es mir nie gesagt!« Er kam ganz dicht an sie heran, sein Gesicht mit den entblößten Zähnen eine Grimasse. »Warum! Warum mußte ich es aus seinem Mund erfahren, daß du jenes Mädchen warst, daß ihr beide...«
»Hör auf damit, um Himmels willen, hör auf!« rief sie. »Schließ die Tür, schließ die Tür!« Plötzlich sprang sie auf und rannte an ihm vorbei. Sie schloß die Türflügel, die er aufgestemmt hatte, stürzte dann zum Fenster und zog die schweren Samtvorhänge zu, so daß sie beide nun in vollkommene Dunkelheit gehüllt waren.
»Warum quälst du mich?« flehte sie. »Was habe ich denn mit eurer Rivalität zu tun? Großer Gott, Tonio, mein halbes Leben lang habe ich in diesem Haus gesessen und dir Märchen vor-gelesen! Damals war ich noch ein Kind. Ich war nicht älter, als du es heute bist! Ich wußte nichts von der Welt, und so ging ich mit ihm, als er mich holen kam!
Aber es dir sagen, wie hätte ich es dir sagen sollen? Nachdem man Carlo in die Verbannung geschickt hatte, hätte mich Seine Exzellenz für den Rest meines Lebens wieder in der Pietà oder irgendeinem schlimmeren Ort einsperren können! Ich besaß keine Ehre mehr und auch sonst nichts, bis er mich hierherbrachte, mich heiratete und mir seinen Namen gab.
Lieber Gott, ich habe fünfzehn Jahre lang versucht, jene Signora Treschi, deine Mutter, zu sein, die er sich wünschte.
Aber es dir sagen, wie hätte ich es dir denn sagen sollen?
Gütiger Himmel, ich habe Carlo angefleht, dir nichts davon zu sagen! Aber Tonio, außer den wenigen Nächten, die ich mit ihm verbrachte, als ich noch ein Mädchen war, habe ich das Leben einer Nonne geführt. Was aber habe ich verbrochen, um das zu verdienen? Siehst du hier das Gesicht und die Gestalt einer Heiligen? Ich bin eine Frau, Tonio.«
»Aber Mamma, jetzt lebst du mit ihm unter dem Dach meines Vaters...«
Er spürte ihre Hände, noch bevor er hörte, daß sie sich bewegt hatte. Sie tastete nach seinem Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, sogar die Augen hielt sie ihm zu, obwohl er ohnehin nichts sehen konnte. Ihre Finger lagen nun warm und zitternd auf seinen Lidern, ihre glatte Stirn hatte sie wie einen Stein an seine Lippen gedrückt und sich mit ihrem ganzen Körper an ihn gepreßt.
»Bitte, Tonio ...« Sie schluchzte leise. »Es spielt keine Rolle, was ich jetzt mit ihm mache. Ich kann an dieser Rivalität nichts ändern. Du bist machtlos, ich bin machtlos. Oh, bitte, bitte ...«
»Halte zu mir, Mutter«, flüsterte er. »Egal, was gewesen ist, halte jetzt zu mir, ich bin dein Sohn, Mutter, ich brauche dich.«
»Ich halte zu dir, ganz gewiß. Aber ich besitze keine Macht, ich habe nie welche besessen.«
Er spürte ihren Kopf in der Beuge seines Halses, spürte, wie sich ihre weichen Brüste hoben und senkten. Langsam hob er seine rechte Hand und streichelte ihr über die seidige Fülle des Haares.
»Das hier muß vorbeigehen«, flüsterte er.
Ende des Monats schließlich erlitt Carlo bei seiner ersten Wahl eine Niederlage. Die älteren Mitglieder des Großen Rates sprachen abermals davon, ihn im Ausland zu stationieren.
Seine jungen Gefährten widersetzten sich dem.
An den umfangreichen Klauseln von Andreas Testament gab es nichts zu deuteln. Neben der klaren Verfügung, daß sein älterer Sohn nicht heiraten dürfe, befand sich dort eine weitere Klausel, die unanfechtbar war:
Andrea hatte für seine Besitztümer die Erbfolge bestimmt. Das bedeutete, daß sie niemals geteilt oder verkauft und nur an die Söhne von Marc Antonio Treschi weitervererbt werden durften.
Carlo konnte also tun, was er wollte, die Zukunft der Familie gehörte Tonio. Nur wenn Tonio ohne Nachkommen sterben oder er sich als zeugungsunfähig erweisen sollte, sollten Carlos Erben anerkannt werden.
Carlo jedoch lehnte sich diesmal nicht auf. Die alten Freunde seines Vaters hatten ihn gewarnt, daß es ein Skandal wäre, die Wünsche seines toten Vaters anzufechten, und er schien dies zu akzeptieren. Sein Geld verschwendete er weiterhin auf die Haushaltung, einschließlich erhöhter Löhne für die Hauslehrer seines Bruders.
Er akzeptierte sämtliche niedrigen Pflichten, die ihm der Staat auftrug, und machte sich daran, jedermann von Bedeutung zufriedenzustellen. Bald war er das Musterbild eines Patriziers und genoß das Leben. Er tat nichts Ungehöriges, besuchte aber alle und jeden, speiste überall, spielte, wenn er die Zeit hatte, ging ins Theater und ließ alle
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