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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Leute wissen, daß er ein echtes Kind seiner Heimatstadt war.
    Tonio dagegen war niemals zu Hause. Oft schlief er mit Bettina in dem Zimmer über der kleinen Taverne, die ihrem Vater gehörte und nicht weit von der Piazzaentfernt lag. Zweimal stauchten ihn seine Cousins, die Lisani, für sein Verhalten zusammen, warnten ihn, daß er den Zorn des Großen Rates auf sich ziehen würde, wenn er nicht langsam anfinge, sich wie ein Patrizier zu benehmen.
    Aber sein Leben fand in den schmalen Gassen statt. Es fand in Bettinas Armen statt.
    Als am Ostersamstag die Glocken läuteten, war Tonios Stimme in den Straßen von Venedig zur Legende geworden.

    In den calli jenseits des Canal Grande hatten die Leute begonnen, Ausschau nach ihm zu halten. Sie erwarteten ihn bereits. Ernestino hatte noch nie einen solch goldenen Regen von Münzen gesehen. Tonio schenkte ihm alles.
    Das erlesene Vergnügen, das er in diesen Nächten erlebte, war alles, was er sich wünschte, aber nicht einmal er selbst begriff ganz, warum das so war.
    Er wußte nur, daß er sich, wenn er zum Himmel voller Sterne hinaufsah, wenn der Wind lind und salzig von der See her wehte, aus voller Kehle den wildesten Liebesliedern hingeben konnte. Vielleicht war seine Stimme alles, was ihm aus jener noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeit geblieben war, in der sie Vater, Mutter und Sohn gewesen waren und die Familie der Treschi verkörpert hatten. Manchmal träumte er beim Singen von Caffarelli, stellte sich vor, selbst auf einer solchen Bühne zu stehen. Dies hier jedoch war süßer und unmittelbarer, es lagen mehr Trost, Kummer und Pathos darin.
    Oben weinten die Leute. Sie riefen Liebesschwüre, während sie ihre Börsen leerten. Sie wollten den Namen dieses engel-gleichen Soprans wissen, man schickte Lakaien hinunter, um ihn und seine kleine Truppe hinauf in elegante Speisezimmer zu bitten. Tonio aber nahm keine dieser Einladungen an.
    Wenn es auf die Morgenstunden zuging und der Himmel blasser wurde, folgte er Ernestino jedoch zu dessen Lieblingsplätzen.
    »In meinem ganzen Leben«, sagte Ernestino, »habe ich noch keine Stimme wie die Ihre gehört. Sie ist ein Geschenk Gottes.
    Aber singen Sie, solange Sie noch können, denn es wird nicht mehr lange dauern, bis Sie diese hohen Töne für immer verlieren.«
    Tonio spürte durch den angenehmen Schleier seiner Trunkenheit hindurch, wie die Worte ihre offensichtliche Bedeutung annahmen. Ernestino hatte vom Mannesalter gesprochen, dem Verlust von all dem hier und von noch so vielem mehr.
    »Passiert das ganz plötzlich?« murmelte er. Er hatte den Kopf gegen die Mauer gelehnt. Er hob den Krug und spürte den Wein die Kehle herunterrinnen. Das war in letzter Zeit zu oft der Fall, aber er mußte die Bitterkeit aus seinem Mund spülen.
    »Mein Gott, Exzellenz, kennen Sie denn keinen Jungen, der gerade im Stimmbruch ist?«
    »Nein, abgesehen von einem alten Mann und einer sehr jungen Frau hatte ich niemanden um mich«, sagte er. »Über Jungen weiß ich gar nichts, über Männer weiß ich kaum etwas.
    Letztendlich weiß ich auch nur sehr wenig über das Singen.«
    Am anderen Ende der calle, in der sie standen, war plötzlich eine Gestalt aufgetaucht. Sie füllte die Gasse aus, schien die Mauern auf beiden Seiten zu berühren, und Tonio hatte plötzlich das Gefühl, daß er vorsichtig sein sollte.
    »Manchmal geschieht es rasch«, sagte Ernestino eben.
    »Manchmal zieht es sich auch über lange Zeit hin, das weiß man vorher nie. Der Betreffende kann dann nur noch unsaubere Töne von sich geben. Aber so groß wie Sie für Ihr Alter sind, Exzellenz, und... und...« Er lächelte leise und nahm den Krug. Tonio wußte, daß er Bettina meinte. »... nun, da kommt es vielleicht schneller als bei den meisten.« Dabei ließ er es bewenden. Er legte Tonio seinen schweren Arm auf die Schulter und führte ihn weiter.
    Die Gestalt war verschwunden.
    Tonio lächelte, doch niemand sah es. Er dachte daran, was sein Vater einst zu ihm gesagt hatte. Es waren beinahe seine letzten Worte gewesen. Plötzlich machte ihn der Schmerz ganz taub.
    »Wenn du erst einmal die Entscheidung getroffen hast, daß du ein Mann bist, dann wirst du auch einer werden.« Konnte der Verstand den Körper denn auf diese Weise beeinflussen? Er schüttelte den Kopf. Auf einmal war er fürchterlich zornig auf Andrea.
    Sie hatten den Kanal erreicht. Ein Stück weiter vorn sahen sie im düsteren Schatten der Brücke, wo sich die Gondolieri versammelten,

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