Falsetto
weigerte.
Er starrte den Jungen an, der fast so groß war wie er selbst. In jenem Augenblick, in dem er die Stimme von der Chorempore her gehört hatte, erkannte er, daß es in der Tat so war, wie er vermutet hatte: Dies war der herumstreunende Edelmann, der nachts durch die Straßen zog, der dunkeläugige, weißhäutige Junge mit einem Gesicht, das wie aus reinstem Marmor gemeißelt wirkte. Er besaß eine schmale, elegante Statur, wirkte wie von Botticelli gemalt. Als er sich vor seinen Lehrern verbeugte - so als wären sie gar nicht seine Untergebenen -, zeigte er nichts von jener angeborenen Überheblichkeit, die Guido bei den Aristokraten sonst stets beobachtet hatte.
Ihm fiel jedoch auf, daß der Junge trotz all seiner Höflichkeit einen unnahbaren Gesichtsausdruck zeigte. Er verließ die Versammlung mit einer respektvollen, aber gleichgültigen Entschuldigung.
»Sie müssen meine Entschuldigung akzeptieren, Signore«, sagte Alessandro. »Beppo hatte nicht die Absicht, Ihnen Ihre Zeit zu stehlen.«
»O nein. Nein, nein, nein... neineinein!« murmelte Beppo in allen Betonungsvarianten, die in einem Satz möglich waren.
»Und dieser arrogante Junge, wer ist das?« wollte Guido wissen. »Dieser Patriziersohn mit der Kehle aus Gold, den es nicht einmal kümmert, welchen Eindruck seine Stimme gemacht hat?«
Das war zuviel für Beppo, Alessandro ergriff die Initiative und schickte ihn fort.
»Wenn Sie mir verzeihen wollen, Maestro«, sagte er dann und bückte sich, um in dieses grimmige, dunkle Gesicht vor ihm zu blicken. Er hatte Beppos Kerze genommen. »Der Junge hat nicht den leisesten Zweifel daran, daß seine Stimme jedem gefällt, der sie hört, obwohl er natürlich niemals ein so schlechtes Benehmen an den Tag legen und es auch sagen würde. Und bitte verstehen Sie, daß er heute nur hierhergekommen ist, um seinem Lehrer eine Gefälligkeit zu erweisen.«
Dieser Bauer aber war nicht nur ungehobelt, man konnte ihn auch nicht beleidigen. Er hörte Alessandro nicht einmal zu.
Statt dessen rieb er sich mit beiden Händen an den Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen.
Erst in diesem Augenblick, als er, die Kerze in der Hand, ganz nahe vor dem Fremden stand, erkannte Alessandro plötzlich, daß er einen ungewöhnlich stämmigen Kastraten vor sich hatte. Er musterte das glatte Gesicht. Nein, da war nie ein Bart gewachsen. Das hier war auch ein Eunuch.
Fast hätte er gelacht. Er hatte ihn, der ein Messer in seinem Gürtel trug, für einen unversehrten Mann gehalten. Alessandro hatte plötzlich merkwürdig gemischte Gefühle. Seine Haltung gegenüber Guido wurde ein wenig milder, nicht weil er ihm leid tat, sondern weil er ein Mitglied einer großen Bruderschaft war, die die klare Schönheit von Tonios Stimme wahrscheinlich mehr zu schätzen wußte als irgendwer sonst.
»Wenn Sie mir gestatten, Signore, dann könnte ich Ihnen einige andere Jungen empfehlen. In San Giorgio gibt es einen Eunuchen ...«
»Ich habe ihn gehört«, sagte Guido leise und mehr zu sich selbst als zu Alessandro. »Gibt es die geringste Chance, daß dieser Junge... Ich meine, was genau bedeutet ihm seine Begabung?« Aber bevor er noch zu Alessandro hochsah, wußte er, daß seine Frage vollkommen lächerlich war.
Alessandro hielt sie nicht einmal einer Antwort würdig.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Guido hatte ihm den Rücken zugewandt und war auf dem unebenen Steinboden ein paar Schritte weit gegangen. Die Flamme der Wachskerze zitterte in Alessandros Hand. Und in diesem schlechten Licht schien es, als könne er das Seufzen, das dem Gesangslehrer entschlüpfte, um so deutlicher hören.
»Würden Sie Ihrem jungen Freund, dem Patrizier, bitte meinen Dank übermitteln?« murmelte Guido niedergeschlagen.
Sie gingen zusammen zur Tür.
Als Alessandro jedoch seine Hand schon auf dem Türknauf hatte, hielt er inne.
»Aber sagen Sie mir«, meinte er vertraulich. »Was halten Sie wirklich von seiner Stimme?«
Sofort bereute er seine Worte. Dieser dunkle, kleine Mann war zu allem fähig. Zu seiner Überraschung jedoch sagte Guido nichts. Er stand da, funkelte die halb abgebrannte Kerze an, dann wurde sein Gesicht glatt und philosophisch. Abermals spürte Alessandro, daß der andere von heftigen Gefühlen bewegt wurde. Es waren sehr starke und verwirrende Gefühle.
Dann lächelte Guido Alessandro wehmütig an: »Was ich davon halte? Ich wünschte, ich hätte sie nie gehört.«
Und Alessandro lächelte ebenfalls.
Sie waren
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