Familienalbum
brach jeden Schultag eine so lange Prozession auf, kein anderes Haus hallte so sehr von kindlichem Leben wider, duftete so sehr nach Familie. Damals hatte Alison das Gefühl, sie blicke – wenn auch liebenswürdig und taktvoll – auf ihre weniger reich beschenkten Freundinnen und Bekannten herab wie eine Königin von ihrem Thron.
Aber jetzt haben sich diese anderen Mütter irgendwie alle in Luft aufgelöst.
Altvertraute Gesichter sind verschwunden (die Kinder sind erwachsen, das Haus zu groß), und an ihre Stelle traten die hinkenden Bewohner des Pflegeheims, die tagsüber ausschwärmenden Besitzer der teuren Autos. Heute bleibt man auf der Straße nicht mehr stehen, um einen Schwatz zu halten.
Alison macht das im Großen und Ganzen nichts aus. Allersmead hat sich immer selbst genügt; heute ist es natürlich geschrumpft, nachdem die Kinder fort sind, aber es bleibt autark, wie es immer war. Und es wird von einer Unmenge reizender Geister bevölkert, der Idealfamilie, die unentwegt in Glück und Harmonie zusammenlebt; die Kleinen schaukeln auf den Schaukeln, graben im Sandkasten, während das Grammofon oben aus dem Spielzimmer dudelt: »Der Bauer braucht ’ne Frau, der Bauer braucht ’ne Frau …«
Charles ist grau geworden, noch stärker gebeugt, aber sonst von den Jahren unbeeinträchtigt, will es scheinen. Er verbringt immer noch den größten Teil seiner Zeit im Arbeitszimmer, aus dem jedoch schon eine ganze Weile kein Buch mehr hervorgegangen ist. Die Verlage zeigen keine Begeisterung mehr. Die alten Lektoren, die er kannte, wurden von sehr jungen Männern und Frauen abgelöst, die seine Vorschläge höflich ablehnen – sie sehen sich nicht in der Lage, seine Idee, so interessant sie ist, mitzutragen. Charles arbeitet trotzdem noch an einem Buch – natürlich, was sollte er sonst tun? Aber er stellt fest, dass seine Beziehung zu diesem Buch anders ist als zu seinen früheren Büchern: Er hat noch nicht viel zu Papier gebracht und fühlt sich zum Schreiben auch kaum noch gedrängt oder gar gezwungen; das Buch ist eher wie ein bequemes Kleidungsstück, das er anzieht, wenn er Lust darauf hat. Ob es veröffentlicht wird oder nicht, ist ihm eigentlich egal. Ihm genügt, dass er einen Grund hat, sich in seinem Arbeitszimmer zu beschäftigen wie eh und je. Manchmal fühlt er sich dieser Tage körperlich nicht allzu wohl.
Ingrid ist unter die Geschäftsleute gegangen. In den Erntemonaten verkauft sie den Überschuss aus dem Gemüsegarten an die Kochkursteilnehmerinnen. Sie hat neuerdings Schnittblumen ins Sortiment aufgenommen, hat die Anbaufläche im Garten um eine Rabatte erweitert, in der immer etwas blüht, sodass stets ein Angebot frischer Blumen zur Verfügung steht. Alison hat darauf gedrängt, dass Ingrid das so erzielte Einkommen behalten solle, aber Ingrid besteht genauso beharrlich darauf, die Haushaltskasse damit aufzustocken. Ihr sind gewisse Finanzprobleme vielleicht stärker bewusst als Alison und Charles, die diese Schwierigkeit lieber ignorieren.
Die früher gertenschlanke Ingrid ist stämmiger geworden und hat ihr mädchenhaftes Aussehen verloren. Aber ihre Haare, diese verräterischen Haare, sind immer noch golden wie Mais, ohne jeden Anflug von Grau. Und nach wie vor hat sie diesen unbeteiligten, rätselhaften Blick und neigt zu leicht befremdlichen Gesprächseinwürfen. Sie verwirrt die Kochkursteilnehmerinnen, die nicht so recht wissen, wie sie sie einordnen sollen, und wenn Ingrid ihre neugierigen Vorstöße abblockt, fühlen sie sich in die Schranken verwiesen. Alison antwortet auf alle Nachfragen nichtssagend: »Ach, Ingrid ist ja eine solche Stütze – was würden wir ohne sie machen?« Dieses »wir« scheint Charles einzuschließen, der sich so selten zeigt, den Ehemann, auf den die Frauen nicht wenig neugierig sind. Alle, die ihn flüchtig zu sehen bekamen und womöglich versucht haben, mit ihm ein paar Worte zu wechseln, berichten von einem irgendwie distinguiert aussehenden Herrn in der altmodischsten Tweedjacke, die ihnen je untergekommen ist, ein nicht gerade überschwänglicher, wenn auch untadelig höflicher Typ, der aber sofort wieder in sein Zimmer verschwindet; man fragt sich bloß, was er da macht .
Allersmead erregt eine gewisse Neugier. Vielleicht war das schon immer so, aber damals, in den Tagen des Hochbetriebs, als es von Kindern wimmelte, waren auch kritische Stimmen laut geworden: Wieso setzen diese Leute in der heutigen Zeit eine Familie dieser Größe in die
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