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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henriette Frädrich
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Fragen konfrontieren? Wir hatten immer ein sehr gutes und inniges Verhältnis. So oder so, ich wäre enttäuscht. Enttäuscht, dass sich mein Vater nie für mich interessiert hat. Oder enttäuscht, dass meine Mutter Kontaktversuche manipuliert hätte.
    Mein Vater würde sich immer damit rausreden können, dass er dem Wunsch meiner Mutter nachgekommen ist. Sie wollte keinen Kontakt mehr zu ihm haben, und auch nicht, dass er Kontakt zu mir hat. Vielleicht hat er so richtig gehandelt. Aber wäre ich Vater eines Sohnes, und die Mutter würde mir jeglichen Kontakt verweigern, ich würde doch kämpfen, meinen Sohn weiter sehen zu dürfen. Und das verstehe ich nicht. Aber wie sollte ich es auch verstehen, zu wenig Informationen habe ich darüber, was wirklich passiert war, und was die Hintergründe sind. Und die Informationen, die ich bekommen würde, sind subjektiv.
    Vielleicht ist mir mein Vater doch nicht egal. Und ich würde gern wissen, wer er ist, habe aber Angst davor, was es bedeuten würde, ihn kennen zu lernen. Es gibt zwei, drei Bilder, auf denen er mich als Baby im Arm hält, aber das ist alles. Ich versuche, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und mir zu finden. Ich versuche, ein Gefühl in mir zu finden, dass mich von innen erleuchtet und dass mir sagt „Schau an, dein Vater, Hurra!“. Ein Gefühl, dass eine Verbindung zu diesem Mann und mir schafft.
    Ein einziges Mal habe ich ihn kurz gesehen. Es war bizarr. Ich war vielleicht acht Jahre alt. Und es ging um den Unterhaltsstreit. Meine Mutter musste sich mit meinem Vater treffen, und er kam zu uns nach Hause. Sie sagte mir, dass mein Vater kommen würde und fragte mich, ob ich ihn denn sehen wollen würde. Ich antwortete mit „Nein. Will ich nicht.“, aber ich hatte es auch nicht anders gelernt. Ich hatte gelernt, zu meinem Vater „Nein“ zu sagen. Durch die jahrelange Abwesenheit. Dabei hatte meine Mutter in all den Jahren nur eine Handvoll Sätze über ihn gesagt. Er war kein Dauerthema, er war so gut wie kein Thema. Ich spürte eine seltsame Erleichterung bei meiner Mutter, als ich ihr Angebot verneinte. Und so verschanzte ich mich in mein Zimmer, hörte Rias Berlin und fühlte mich komisch. Es klingelte an der Tür, ich hörte seine Stimme. Mein Herz pochte. Dann verschwanden meine Mutter und mein Vater für kurze Zeit in der Küche. Und dann, dann klopfte es an meiner Zimmertür. Oh Gott, war er es? Ich sagte mit leiser Stimme „Ja?“, und dann öffnete sich die Tür, und er steckte seinen dunklen Lockenkopf herein, sagte kurz „Hallo, Guten Tag!“. Ich erinnere mich daran, dass ich kurz zu ihm hin bin, ihm die Hand geschüttelt habe und verlegen „Guten Tag“ gesagt habe. Ich erinnere mich, dass er völlig unbeholfen war und braune Augen hatte. Dann machte er die Tür wieder zu und verschwand. Und ich saß da. Und fühlte mich komisch. „Das war also dein Papa,“ ging es mir durch den Kopf. Ich zwang mich dazu, irgendwas zu fühlen. Aber ich spürte nichts. Ich war nur verwirrt, weil ich nicht wusste, wie ich das einzuordnen hatte. Warum blieb er nicht länger? Warum fragte er mich nichts? Warum hat er überhaupt „Hallo“ gesagt, wenn er doch sowieso nach fünf Sekunden wieder abgehauen ist? Ich entschloss mich, die ganze Angelegenheit irgendwie zu vergessen. Meine Mutter kam kurz rein, sah mich prüfend an. Sie war genauso unsicher wie ich. Sie druckste rum „Tja, also, das war dein Vater.“, sagte sie. Sie erwartete jetzt irgendeine Reaktion von mir, aber ich konnte nichts sagen. Ich nickte nur. Ich erwartete von ihr eigentlich eine Reaktion oder eine Erklärung, aber da kam nichts. „Tja, also, dann, es gibt gleich Abendessen.“ Dann ging sie wieder raus. Und ließ mich allein mit dem, was gerade passiert war. Gesprochen haben wir nie wieder darüber.
    Ein paar mal recherchiere ich nach meinem Vater im Internet. Aber es gibt keinerlei Informationen über ihn. Führt er so ein unscheinbares Leben, dass es nichts über ihn zu berichten gibt? Ist mein Vater ein Loser? Ich stelle mir die Frage, wie es wäre, vor ihm zu stehen. Was soll ich dann sagen? „Hallo, Papa! Ich bin dein Sohn.“ Fühlt sich komisch an. Je älter ich werde, desto mehr denke ich, dass es sinnlos wäre, diesen Stein ins Rollen zu bringen. Gleichzeitig denke ich aber auch, je älter ich werde, desto weniger Zeit bleibt mir, die Chance zu nutzen, meinen Vater kennen zu lernen. Ist es gut so, dass ich ihn nicht kenne? Oder verpasse ich da etwas? Ich bin ratlos. Ich

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