Familientherapie ohne Familie
ist wohl das eigentliche Geheimnis der Kurzpsychotherapie. Das Prinzip ist natürlich nicht neu, sondern wird in vielen sogenannten stützenden Psychotherapien verwendet. Nur das Ausmaß unterscheidet das Modell aus Milwaukee von anderen Formen der Psychotherapie. Dabei wurde ein lieb gewordenes, oft nicht bewusstes Therapieprinzip über Bord geworfen, nämlich sich in erster Linie um die Probleme des Patienten zu kümmern und die eventuellen Lösungen erst an zweiter Stelle zu platzieren. Die Konsequenzen, die sich aus der Betonung der Lösungen ergeben, sollen weiter unten noch ausführlich dargestellt werden.
12. Probleme sind meist nicht eindeutig nur gut oder schlecht. Je nach Sichtweise kann zumindest teilweise den Symptomen ein positiver Aspekt zukommen.
13. »Eine Therapie kann selbst dann effektiv sein, wenn der Therapeut nicht beschreiben kann, was eigentlich das Problem des Klienten ist. Alles, was Therapeut und Klient wissen müssen, ist im Grunde, woran für beide erkenntlich sein wird, dass das Problem gelöst ist.« 7 In provokanter Form drückte de Shazer so noch einmal die Dominanz der Lösungen vor der Analyse des Problems aus.
In Bezug auf die therapeutische Praxis lassen sich die Prinzipien vereinfacht zusammenfassen:
1. Die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit.
2. Die Lösung ist schon vorhanden.
3. Um etwas zu verändern, lautet die therapeutische Botschaft vereinfacht: »Mach etwas anderes!« oder »Betrachte es anders!«
Die Einstellung, mit der ein Therapeut an die Behandlung geht, ist von der Erkenntnis geprägt, dass Wandlung das Tägliche und Natürliche ist und Stabilität eine Illusion darstellt. Diese Vorannahme über Stabilität und Wandel führt zu der Einstellung, den Wandel als das Natürliche anzusehen und sich zu fragen, was alles dazu beiträgt, einen bestimmten Zustand unverändert erscheinen zu lassen (siehe Seite 42).
Vieles des bisher Beschriebenen mag unverständlich oder befremdlich klingen, da es gegen manche therapeutische Tradition verstößt, so vereinfachend und »oberflächlich« zu denken. Auch verstanden die Therapeuten aus Milwaukee unter »systemisch« nicht genau das Gleiche wie das Mailänder Team. Wurde in Mailand stets die Einbettung des Symptoms in die Familie gesehen, betrachtete man in Milwaukee das »System Individuum« gelegentlich alleine. Deswegen legte man auf die Ressourcen stärkeren Wert als in Mailand. In der therapeutischen Praxis wurde allerdings auch dort mit zirkulären Fragen gearbeitet.
Statt die Besonderheiten weiter theoretisch darzustellen, möchte ich lieber den Gang der Behandlung schildern, wie er sich in Milwaukee abspielte. Dabei bezieht sich die Schilderung vor allem auf die Zeit Ende der 80er-Jahre. Neben Steve de Shazer und Insoo Kim Berg hat mich besonders Eve Lipchik beeinflusst. Im Dezember 2007 wurde das BFTC knapp ein Jahr nach dem Tod von Insoo geschlossen.
Im BFTC war es üblich, die Patienten so zu nehmen, wie sie sich anmeldeten bzw. bereit waren zu kommen. Das hieß, es wurden sowohl ganze Familien gesehen wie auch Teile von Familien: zum Beispiel nur die Ehefrau oder nur die Mutter
mit ihrem Kind oder auch Einzelpatienten, da man versuchte, Probleme weitgehend so zu akzeptieren, wie der Patient sie darstellte. Später wurde dieses Setting möglicherweise verändert, wurden andere Familienmitglieder hinzugezogen oder wurde auch die Anzahl der beteiligten Personen reduziert. Anders als im Mailänder Modell ging man am BFTC davon aus, dass im Falle von Problemen während der Therapie geprüft werden könne, ob nicht zu viele Personen mit einbezogen wurden.
Dem entsprach die grundlegende Philosophie, dass ein komplexes Problem keine komplexe Lösung verlangt. Ähnlich wie im Fall des sagenhaften Gordischen Knotens, bei dem ein verschlungenes Problem überraschend einfach gelöst wurde und zum gewünschten Erfolg – der Besitznahme Kleinasiens – führte.
Psychotherapie ähnelte also nach den Vorstellungen des BFTC dem permanenten Lösen solcher gordischen Knoten mit einfachen Lösungen, die nichts oder wenig mit der Struktur des Problems zu tun haben mussten. Es gab, um es noch einmal zu betonen, nach dieser Auffassung keine innere Entsprechung, keinen Isomorphismus zwischen dem Problem und seiner Lösung.
Das ist ein zentraler, vielleicht der zentrale Punkt der Kurz therapie nach dem Modell des BFTC. Man beschränkte sich auf die Lösung von Problemen und praktizierte ein teilweise schematisiertes
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