Familientherapie ohne Familie
durchzuführen.
Ich benütze hier meist den Begriff »Patient«. Das tue ich zwar nur ungern, da er den Begriff des Leidens in sich trägt und außerdem suggeriert, es sei klar, wer krank und wer gesund ist. Das ist es natürlich nicht. Wenn ich ihn dennoch benütze, dann mehr aus einer medizinischen Tradition heraus, in der andere Begriffe nie richtig Fuß fassen konnten.
Nach der Unterscheidung, ob ein Patient nun Besucher, Klient oder Kunde ist, begann das eigentliche Interview. Dabei folgte der Interviewer einem inneren Leitschema. Er versuchte die Situationen zu beleuchten, in der ein Patient das Problem von sich aus gelöst hatte, und die exakten Bedingungen und Umstände, warum das möglich war. Hierbei wendete der Therapeut als Erstes seine Aufmerksamkeit den Ausnahmen zu, das heißt den Situationen, in denen der Patient selbst schon eine Lösung gefunden hatte.
Angenommen, das präsentierte Problem wäre eine Depression, so könnte man nach einer Weile fragen:
»Wissen Sie, ich habe die Beobachtung gemacht, dass sich zwischen der Zeit, in der sich jemand hier anmeldet, und dem Zeitpunkt der ersten Stunde einige Veränderungen ereignen, die in die richtige Richtung gehen. – War das bei Ihnen auch so? Was haben Sie an Ihrem Verhalten beobachtet?«
Rund zwei Drittel aller Patienten konnten nach einer Untersuchung des BFTC zumindest eine derartige Veränderung berichten.
Falls dann jemand sagte: »Ja, mit dem Einschlafen ist es nicht mehr ganz so schlecht wie in den Wochen zuvor«, konzentrierte der Therapeut sein Interesse ganz auf diesen Punkt. Er bemühte sich herauszufinden, was da anders war als sonst:
»Erzählen Sie mir, was war da anders?«
»Was haben Sie anders gemacht?«
»Was, meinen Sie, hat Ihnen geholfen?«
»War noch jemand dabei, der für Sie hilfreich war?«
Solche und ähnliche Fragen lenkten von Anfang an die Aufmerksamkeit auf vorhandene Ressourcen.
Danach wendete sich der Therapeut den Ausnahmen zu:
»Sie sagten, Sie kommen hierher, weil Sie unter so schrecklichen Depressionen leiden. Wann ist das denn anders, wann fühlen Sie sich fröhlicher?«
Gerade Patienten mit depressivem Verhalten werden an dieser Stelle nicht gleich mit Antworten sprudeln. Man kann dann die Frage auch umdrehen:
»Ach, das ist ja außergewöhnlich, Sie meinen, Sie sind wirklich den ganzen Tag depressiv, wirklich 24 Stunden am Tag, oder zumindest in der ganzen wachen Zeit, ohne den geringsten Unterschied?«
Wenn dies ein Patient immer noch bejahen sollte, so mag man weiterfragen:
»Woher wissen Sie dann, dass Sie ›depressiv‹ sind, wenn immer alles gleich ist? War es früher einmal anders, oder gibt es doch Ausnahmen?«
So weit wird man jedoch nur selten gehen müssen, um eine Ausnahme im eingespielten Verhalten zu finden.
Wenn dann der Patient ein paar solche Situationen nennt, wird man – wie oben erwähnt – versuchen, mit dem Patienten herauszufinden, was er jeweils in den Situationen anders gemacht hat. Nicht um sofort Handlungsanweisungen daraus herzuleiten, sondern um sie erst einmal stehen zu lassen und sie später als Ressourcen zu benutzen. Unabhängig davon wird es für den Patienten selbst überraschend sein zu sehen, dass er selten oder nie depressiv ist, wenn beispielsweise bestimmte Personen anwesend sind oder die Wochenenden meist Zeiten ausgeglichener Stimmungslage sind. Wenn er eventuell noch erwähnt, wie er sich bei der Arbeit erfolgreich durchgesetzt hat und in der Folge eine Woche lang blendender
Stimmung war, wird es der Therapeut nicht mehr sehr schwer haben, das weitere Vorgehen mit dem Patienten zu überlegen.
Abhängig von der Art, wie die Ausnahmen beschrieben werden, ergab sich ein unterschiedliches therapeutisches Vorgehen. Im Wesentlichen wurden vier Arten unterschieden:
1. Patienten, die sehr klar beschreiben können, was die Unterschiede zwischen den Ausnahmen und den Beschwerden sind. Also etwa: »Mir geht es immer gut, wenn...« Diese Gruppe ist die Minderheit, zumindest in der ersten Stunde. Mit ihnen war es in diesem Modell eine Freude zu arbeiten, da relativ einfach Fortschritte erzielt werden konnten. Die mögliche Intervention am Ende der Stunde konnte darauf abzielen, sie zu ermutigen, mehr von dem zu machen, was für sie hilfreich war.
2. Patienten, bei denen die erwünschten Ausnahmesituationen rein zufällig auftreten: »An einigen Tagen geht es mir gut, an anderen schlecht, da gibt es keine Regel, ich bin da völlig hilflos.« Solche Patienten
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