Familientherapie ohne Familie
Situation heraus entwickelt und je nach der Erfahrung des Therapeuten eingesetzt. Ein Schema war in diesem Vorgehen aber nicht ersichtlich. Allerdings schöpften die meisten Therapeuten aus einem gewissen Vorrat an Interventionen, die sie je nach Symptom und Familie entsprechend abwandelten. Um Wiederholungen zu vermeiden, möchte ich daher die Interventionsmöglichkeiten später in einem gesonderten Kapitel darstellen.
DAS MODELL AUS MILWAUKEE 1
Milwaukee ist eine Stadt im mittleren Westen der USA mit etwa 1,7 Millionen Einwohnern am Lake Michigan. Sie ist vor allem durch die europäischen Einwanderer geprägt, von denen jede Nation ihren Teil zum Charakter der Stadt beitrug. Die Deutschen hatten die Braukunst im Reisegepäck, und so wurde Milwaukee die Bierstadt der USA. Es ist eine weit ausgedehnte Stadt mit einigen Hochhäusern im Zentrum, doch ohne eigentliches soziales Zentrum, ohne großes Nachtleben. Die Welt ist hier – fast – in Ordnung.
In diesem Winkel der USA entwickelte sich Mitte der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts eine besondere Richtung der
systemischen Therapie. Steve de Shazer (1940-2005), seine Frau Insoo Kim Berg (1934-2007) und Jim Derks beschäftigten sich mit einem Forschungsprojekt bezüglich einer »neuen« Psychotherapie. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war die Psychotherapie der Arbeitsgruppe in Palo Alto (Mental Research Institute, MRI) und die Faszination durch die Arbeit Milton Ericksons. In ersten Schritten versuchten sie daher, alle verfügbaren Aufzeichnungen von Milton Erickson nach einem gemeinsamen Muster zu untersuchen. 2 Durch beharrliches Studieren der Videobänder Milton Ericksons hofften sie, eine Struktur dieser therapeutischen Interventionen zu finden, die auf den ersten Blick etwas Magisches und Zufälliges hatten. Es fanden sich verschiedene Strukturen, von denen leider nur eine veröffentlicht wurde. 3 Neben dem Interesse an Erickson kannte man aus persönlicher Erfahrung auch die Vorgehensweise des Mental Research Institute in Palo Alto, und man beschloss, so etwas wie das MRI des mittleren Westens zu werden.
Die Anfänge waren bescheiden. 4 Man begann im Privathaus eines der Therapeuten. Die Videokamera befand sich im selben Raum, der Kameramann war sichtbar, und sowohl Therapeut als auch Patienten mussten so tun, als ob dies alles sehr natürlich sei. Ohne von der Mailänder Arbeitsgruppe zu wissen, entschied man sich in der ersten »richtigen« Praxis für ein Arrangement mit Einwegspiegeln und Videokamera im Beobachtungsraum. Ganz ähnlich dem Mailänder Vorgehen installierte man ein Telefon, durch das das Beobachterteam dem Therapeuten ergänzende Mitteilungen machen konnte. Das Beobachterteam war fast ebenso wichtig wie die Therapeuten, und wie in Mailand entwickelte man die Unterbrechung am Ende der Stunde, in der gemeinsam eine Intervention entworfen wurde. Dabei war für die Patienten immer deutlich, wie das Beobachterteam in den Prozess mit einbezogen war. Es sollte in keiner Weise versteckt werden, sondern wurde auch während der Therapiestunde vom Therapeuten immer wieder erwähnt.
Ziel des Brief Family Therapy Center (BFTC) war und ist es, die Struktur des Wandels zu erforschen. Dabei war die Leitlinie, Kurzpsychotherapie zu betreiben. Kurz hieß ursprünglich, nicht mehr als zehn Stunden. Doch zeigte sich in den folgenden Jahren eine weitere Verkürzung auf durchschnittlich vier bis sieben Sitzungen pro Therapie. Neben der Kürze der Gesamtdauer einer Therapie strebte man gleichzeitig eine Beschränkung jeder Therapiesitzung auf 60 Minuten an. Die zeitliche Begrenzung war sowohl Programm als auch ein Teil der äußeren Realität, da lange Sitzungen wie im Mailänder Modell (dort gut drei Stunden) nicht von den Patienten oder Krankenkassen getragen wurden. In diesem pragmatischen Vorgehen spiegeln sich auch die Realitäten der Krankenversorgung der USA.
Weiterhin sollten die Therapieprinzipien und vor allem die Interventionen für alle beteiligten Therapeuten verständlich und auch nach außen hin vermittelbar sein, nicht wie bei den Therapien von Erickson, zwar genial und wirksam, aber immer von der Frage verfolgt: »Wie kommt er nur darauf?«
Letztlich war die Gruppe von der Frage geleitet, was eigentlich wirklich notwendig ist, um einen raschen Wandel zu erzielen. Das heißt: Was kann ich als Therapeut an Techniken, Fragen, Stunden weglassen und trotzdem Wandel erzielen? Oder anders gefragt: Wie kann ein Patient mit minimaler Hilfe sein Problem
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