Fangschuss

einzig und allein um die vier Mädchen. Die Generation, die nur noch mit dreibuchstabigen Abkürzungen kommunizierte, nur durch ihr Handy zu existieren glaubte und alles und jedes fotografierte, um es kurz darauf bei Facebook oder einer anderen Internetplattform der ganzen Welt zugänglich zu machen. Ich sprang auf, zog meine Schuhe an und rannte die Treppe hinunter.
     
    Eine halbe Stunde später klickte ich befriedigt auf Senden und wartete ungeduldig, bis die E-Mail an José vom Bildschirm verschwunden war. Sie war mit einer beträchtlichen Anzahl von Anhängen ausgestattet, mehreren Dutzend Fotos und drei kürzeren Filmchen, die Philipp mit seinem Handy aufgenommen hatte, solange sein Akku dies noch zugelassen hatte. Sie zeigten nebst ein paar unwichtigen, aber pittoresken Ansichten von der Jagdhütte und der Berglandschaft gestochen scharfe Bilder von der Jagd. Da war der Helikopter beim Beladen und beim Abflug zu sehen, man erkannte Doktor Seeholzer deutlich, vor der Hütte und auch zuvor, wie er mit dem Gewehr im Anschlag hinter Ardim her war, den Russen ebenfalls, der Edi erschoss und später versuchte, dem Chinesen, der hilflos am Abgrund hing, zu helfen, alles war da, akribisch genau dokumentiert, selbst die Rottweiler, als sie Tarik zerfleischten. Philipp hatte jedes Mal – kaltblütig oder reflexartig, das sei dahingestellt – den Auslöser betätigt, und das Resultat war so beängstigend wie belastend. Es würde Doktor Seeholzer und seinen Kumpanen das Genick brechen und dem menschenverachtenden Treiben endgültig ein Ende setzen.
    Ich erhob mich und grinste Philipp und Ness erleichtert an.
    »Bleibst du auf einen Joint?«
    Ich dachte an das halb volle Glas Amrut, das zu Hause auf mich wartete, und schüttelte den Kopf. An der Tür blieb ich stehen. »Philipp, du solltest vielleicht wieder mal deine Mutter anrufen. Ich glaube, sie würde sich sehr darüber freuen.«
    Philipp, der mich zusammen mit seiner Freundin zur Tür begleitet hatte, nickte wenig überzeugt.
    Ness legte ihm den Arm um die Schultern, beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
    »Danke, dass du dein Versprechen eingehalten hast.«
    »Man tut, was man kann.«
    Sie lächelte. »Echt nicht übel. Für einen Inder.«
     
    Als ich vor der St. Pauli Bar stand, schien mir plötzlich, als leuchteten die Lichter an diesem Abend heller und bunter als sonst. Die Luft war lau und voller vielversprechender Gerüche. Für einen Moment schien die Welt ein kleines bisschen weniger aus dem Lot zu sein, und ich war stolz darauf, einen bescheidenen Teil dazu beigetragen zu haben. Eine tiefe Zufriedenheit machte sich in mir breit, ich fühlte mich plötzlich leicht, beinahe schwebend. Ich zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, dann schlenderte ich gemächlich die Langstrasse entlang nach Hause und pfiff dazu einen meiner Lieblingssongs. Paradise City von Guns N’ Roses. Passte wie die Faust aufs Auge.

Glossar
    Agglo −der, schweizerisch, abschätziger Ausdruck für Bewohner der Vororte
    Brockenhaus − das, gemeinnützige Sammel- und Verkaufsstelle gebrauchter Waren, deren Ertrag zur Finanzierung sozialer Projekte dient
    Bürli − schweizerisch für Brötchen
    Camion − schweizerisch für Lastkraftwagen
    Cervelatprominenz − abwertende Bezeichnung der weniger wichtig einzustufenden Schweizer Lokalberühmtheiten
    Combox® − Gratis-Anrufbeantworter der Swisscom für Natel®-Abonnenten
    Perron − der; schweizerisch für Bahnsteig
    Schmier − die, schweizerisch für Polizei
    Schneider, Verena »Vreni« − ehemalige Schweizer Skirennfahrerin
    Schümli Pflümli − alkoholhaltiges Kaffeegetränk aus Kaffee, Pflaumenschnaps (Pflümli) und Schlagsahne
    Shipi − schweizerisch umgangssprachlich, oft abwertend für Albaner; Abkürzung von albanisch Shqiptar, Albaner
    Tobel − das; süddeutsch, österreichisch, schweizerisch fürenge (Wald-)Schlucht
    Übername − Spitzname
    urchig − schweizerisch für urwüchsig