Farmer, Philip José - Flusswelt 04
Nordmann vor Rache halb wahnsinnig war, mußte das nicht bedeuten, daß er auch die Gelegenheit erhielt, sie auszuführen. Abgesehen von einem gelegentlichen Landurlaub, der selten länger als eine Woche dauerte, legte die Nicht vermietbar nur dreimal am Tag an. Daß Blutaxt irgendwo am Ufer stand, wenn das Schiff vorbeikam, war nicht unwahrscheinlich. Aber ob er nun zu Fuß lief, paddelte oder segelte – mit dem schnellen Schiff konnte er nicht mithalten.
Aber auch dieses Wissen ließ Blutaxt nicht aus Sams Träumen verschwinden. Vielleicht lag es daran, daß er tief in sich wußte, daß er ein Mörder war. Und deswegen mußte er leiden.
In einer jener plötzlichen Szenenwechsel, die der Traumregisseur so glatt bewerkstelligen kann, fand Sam sich in einer Hütte wieder. Es war Nacht, und es regnete. Draußen tobte ein Gewitter, und die Blitzschläge erinnerten ihn an das Aussehen einer neunschwänzigen Katze. Hin und wieder beleuchteten die Blitzschläge die Einrichtung der Hütte. Neben ihm kniete eine schattenhafte Gestalt. Der Unbekannte trug einen Umhang, und sein Kopf und seine Schultern waren in einer großen Kugel verborgen.
»Was ist der Grund für diesen unerwarteten Besuch?« sagte Sam und wiederholte damit die Frage, die er dem geheimnisvollen Fremden schon während seines zweiten Besuchs gestellt hatte.
»Die Sphinx und ich spielen gerade eine Partie Poker«, sagte der Fremde. »Willst du nicht einsteigen?«
Sam wachte auf. Die Leuchtziffern auf der gegenüberliegenden Wanduhr zeigten 3:33. Was ich dir dreimal sage, ist die Wahrheit. Die neben ihm liegende Gwenafra seufzte und murmelte etwas über einen >Richard<. Träumte sie von Richard Burton? Obwohl sie erst sieben gewesen war, als sie ihn getroffen hatte und nur ein Jahr bei ihm geblieben war, sprach sie noch immer von ihm. Die kindliche Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, hatte alles überlebt.
Abgesehen von Gwenafras Atmen und dem weit entfernten Tschugg-tschugg der Schaufelräder herrschte Stille an Bord. Die Schaufeldrehungen ließen das Schiff leise vibrieren. Wenn Sam die Hand auf den Aluminiumrahmen des Bettes legte, konnte er die schwachen Vibrationen spüren. Die vier von den gewaltigen Elektromotoren angetriebenen Schaufeln brachten sie ihrem Ziel entgegen.
Draußen, an beiden Ufern, schliefen die Menschen. In dieser Hemisphäre herrschte Nacht; das bedeutete, daß momentan 8,75 Milliarden Menschen träumend in ihren Betten lagen. Von welchen schattenhaften Visionen mochten sie wohl heimgesucht werden? Manche würden sich im Traum auf der Erde befinden, andere hingegen auf dieser Welt.
Ob sich auch der ehemalige Höhlenmensch nun seufzend im Schlaf herumdrehte und von dem Säbelzahntiger träumte, der jenseits des den Eingang blockierenden Feuers auf und ab schlich? Joe Miller träumte oft von Mammuts, den behaarten, großen, stoßzahnbewehrten Leviathans seiner Zeit. Mammuts symbolisierten für ihn eine Möglichkeit, seinen geräumigen Magen mit Nahrung zu füllen. Mammuthaut war Stoff für ein Zelt, Stoßzähne konnte man als Zeltstangen verwenden – und aus den restlichen Beißern enorme Halsketten machen. Er träumte auch von seinem Totem, seinem Vorfahren, dem gigantischen Höhlenbären. Die schwere pelzige Gestalt erschien ihm in den Nächten und beriet ihn in Angelegenheiten, die ihm Kummer bereiteten. Und manchmal träumte Joe auch davon, daß irgendwelche Feinde seine nackten Fußsohlen mit Schlagstöcken malträtierten. Seine achthundert Pfund Gewicht hatten ihm, da er nur zwei Beine besaß, Plattfüße verschafft. Er war nicht dazu in der Lage, wie ein Pygmäe den ganzen Tag über zu laufen, sondern mußte hin und wieder Pausen einlegen, um seine schmerzenden Gehwerkzeuge zu schonen.
Wenn Joe von einem weiblichen Exemplar seiner Art träumte, war es stets ein feuchter Traum. Momentan lebte er mit einer beinahe zwei Meter großen Schönheit zusammen, die eine slawische Sprache sprach und aus dem Kassubien des dritten Jahrhunderts stammte. Sie liebte nicht nur Joes Schwere, seine starke Behaarung, seine groteske Nase und seinen Kolben von einem Penis, sondern vor allem auch seinen freundlichen Charakter. Vielleicht bereitete es ihr auch ein perverses Vergnügen, mit einem Wesen zu schlafen, das nicht hundertprozentig menschlich war. Joe liebte sie zwar auch, aber das hielt ihn nicht davon ab, im Traum Amouren mit seinem irdischen Weib oder einer Reihe anderer weiblicher Angehöriger seines Stammes zu erleben.
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