Farmer, Philip José - Flusswelt 04
hielt nur einen großen Sonnenschirm über ihren Kopf. Hinter den Blumen und Büschen tauchten Gesichter auf. Eins davon gehörte Susy, seiner Lieblingstochter. Aber was machte sie da? Bestimmt irgendwas, das ihm nicht gefallen würde. War das ein nackter Männerfuß, der aus dem Busch herausragte, hinter dem Susy sich versteckte? Was ging da vor?
»Ich hab’ doch keinen Federhalter«, wimmerte Sam erneut.
»Ich würde auch deinen Schatten als Pfand nehmen«, sagte Rogers.
»Den habe ich bereits verkauft«, sagte Sam. Als die Tür sich hinter Rogers schloß, stöhnte er auf.
Und damit war der Alptraum zu Ende.
Wo waren seine Frau Livy und seine Töchter Clara, Jean und Susi jetzt? Welche Träume träumten sie? Kam er darin vor? Und, wenn ja, in welcher Gestalt? Wo war sein Bruder Orion? Der unbeholfen wichtigtuerische, nie etwas zustande bringende, optimistische Orion. Sam hatte ihn geliebt. Und wo war sein Bruder Henry, der arme Henry, der so schwere Verbrennungen erlitten hatte, als die Pennsylvania in die Luft flog und er sechs qualvolle Tage in einem viertklassigen Hospital in Memphis zubringen mußte. Sam war bei ihm gewesen, hatte mit ihm gelitten und schließlich zusehen müssen, wie sie ihn in den Raum brachten, in den ganz offensichtlich nur die Sterbenden kamen.
Die Wiedererweckung hatte zwar Orions Haut erneuert, aber die Wunden, die er innerlich davongetragen hatte, konnte sie nicht heilen. Sie hatte nicht einmal die innerlichen Wunden Sams heilen können.
Und wo steckte der arme, alte, whiskyselige Penner, der gestorben war, als das Gefängnis von Hannibal Feuer gefangen hatte? Sam war damals zehn gewesen. Die Feuerglocken hatten ihn aus dem Schlaf gerissen. Er war zum Gefängnis hinuntergerannt und hatte den Mann gesehen, wie er sich schreiend an die Gitterstäbe geklammert hatte, eine schwarze Silhouette gegen den roten Hintergrund einer Flammenwand. Man hatte den Marshai der Ortschaft, der den einzigen Zellenschlüssel besaß, nicht finden können. Ein paar Männer hatten erfolglos versucht, die Eichentür aufzubrechen.
Ein paar Stunden bevor der Marshai den Herumtreiber eingelocht hatte, hatte Sam dem Mann noch Streichhölzer gegeben, damit er seine Pfeife anzünden konnte. Sam zweifelte nicht daran, daß er damit aus Versehen sein Strohlager in Brand gesteckt hatte. Er wußte, daß die Schuld an dem schrecklichen Tod des Tramps ihn traf. Wenn der Mann ihm nicht leid getan hätte und er nicht nach Hause gegangen wäre, um ihm die Streichhölzer zu besorgen, hätte er nicht sterben müssen. Eine aus reiner Sympathie heraus erfolgte Mildtätigkeit hatte dazu geführt, daß der Mann elend bei lebendigem Leibe verbrannt war.
Und wo war Nina, seine Enkelin? Obwohl sie erst nach seinem Tode geboren worden war, hatte Sam durch einen Mann von ihr erfahren, der ihre Todesanzeige in der Los Angeles Times vom 18. Januar 1966 gesehen hatte.
BEERDIGUNG VON NINA CLEMENS, DER LETZTEN NACHFAHRIN MARK TWAINS, AUFGESCHOBEN.
Der Bursche besaß ein sehr gutes Erinnerungsvermögen, aber natürlich hatte ihn in erster Linie sein Interesse an Mark Twain dazu veranlaßt, diese Information zu speichern.
»Sie war fünfundfünfzig Jahre alt und wurde an einem Sonntagnachmittag tot in einem Motelraum an der North Highland Avenue 20 aufgefunden. Ihr Zimmer war voller Pillenfläschchen und Alkohol. Da sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, ordnete man eine Autopsie an, um die Todesursache festzustellen. Diesen Bericht habe ich jedoch nie zu Gesicht bekommen.
Sie starb in einem Haus, das ihrer luxuriösen, mit drei Schlafzimmern ausgestatteten Wohnung in den Highland Towers genau gegenüberlag. Ihre Freunde sagten aus, daß sie dort des öfteren ein Wochenende verbracht hatte, wenn sie das Gefühl hatte, des Alleinseins müde zu sein. Die Zeitung berichtete, sie sei den größten Teil ihres Lebens allein gewesen. Nachdem sie sich von einem Künstler namens Rutgers hatte scheiden lassen, nahm sie wieder den Namen Clemens an. Sie heiratete diesen Rutgers im Jahre… äh… 1935, glaube ich, war aber nur kurz mit ihm beisammen. Die Zeitung schrieb weiterhin, daß sie die Tochter von Clara Gabrilowitsch, Ihrer einzigen Tochter, sei. Natürlich meinte sie damit Ihre einzige überlebende Tochter. Nach dem Tode ihres ersten Mannes heiratete Clara einen gewissen Jacques Samoussoud, auch 1935. Sie war eine überzeugte Anhängerin der Christlichen Wissenschaft, wissen Sie.«
»Nein, das wußte ich nicht!« sagte
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