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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Schweiz, wo es ja die Todesstrafe nicht gibt.«
    In der Jugendbeilage der »Basler Arbeiter-Zeitung« schrieb ein junges Mädchen: »Es ist so viel geschrieben, so viel geschrien worden über Velte und Sandweg, von allen Seiten in den gleichen Tönen: Mörder, Bestien, SA-Banditen! Man ist ganz müde davon geworden, ganz traurig, dass die Menschen so eng sind. Gibt es wirklich nichts sonst zu sagen über diese beiden? Haben wir nicht etwas anderes empfunden bei ihrem Schicksal?
    Wir, die wir in der gleichen Zeit herangewachsen sind wie sie, die wir diese Welt gleich empfinden müssen wie sie, als eine Welt, die der Jugend keinen Raum gibt, keinen Platz, wo sie ihre Gaben verwerten kann, die nur das eine bietet: Arbeitslosigkeit.
    In dieser Welt leben junge Leute, begabt, voller Energie, voller Verlangen, ihre Fähigkeiten zu nützen, einen Platz im Leben zu haben. Die Gesellschaft kann sie nicht brauchen. Ist es nicht verständlich, dass sich ihre Energie gegen diese Gesellschaft wendet?
    Velte und Sandweg hatten Mut, Draufgängertum, wollten, dass das Leben einen hohen Einsatz von ihnen fordere. Die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit weckte in ihnen den Hass gegen die ganze Umwelt. Gegen diesen Feind setzten sie alle ihre Kräfte ein. Da man ihnen keine Aufgabe bot, schufen sie sich eine Aufgabe, an die sie ihre Energie wenden konnten. Und ist es so unverständlich, dass das Leben anderer nicht mehr so schwer wiegt, wenn man sein eigenes waghalsig aufs Spiel setzt?
    Gewiss haben sie den Kampf gegen die Gesellschaft auf ganz falsche, ganz unvernünftige Weise geführt, aber kann eine Welt ohne alle Vernunft Vernunft von den Menschen verlangen?
    Kleinere Leute gewöhnen sich langsam an den Irrsinn dieser Zeit und treiben so mit; größere kann sie zum Irrsinn bringen. Der Tod der beiden hat bewiesen, dass sie Menschen von Format waren. Ihr Glaube an das Mädchen hat ihre innerste Güte und Vornehmheit gezeigt.
    Jugendgenossinnen und Jugendgenossen! Wir wollen Waldemar Velte und Kurt Sandweg in warmem und verstehendem Andenken behalten. Kämpfen wir mit neuem Ernst gegen diese Gesellschaft, die wertvolle Menschen auf einen irrsinnigen Weg treibt!«
    Darauf antwortete ein älterer Genosse am folgenden Tag: »Für mich sind die beiden auch Opfer der Gesellschaft, und zwar der spezifisch deutschen gesellschaftlichen Verhältnisse. Opfer jener furchtbaren militärischen Erziehung, die den Krieg zum Kult macht, die jedem die Aufgabe stellt, von seinen Mitmenschen so viele wie möglich zu erledigen. Hätten Sandweg und Velte in Deutschland Sozialdemokraten erschossen oder ›erledigt‹, anstatt Bankangestellte in Stuttgart oder Basel zu erschießen, sie wären umstrahlt von der Gloriole des Dritten Reiches, sie hätten die Anerkennung der Hitler, Göring und Co. Weil sie das nicht taten, sind sie auch nicht durch ihren Tod ›Menschen von Format‹; voll ›innerster Güte und Vornehmheit‹, die die sozialistische Jugend ›in warmem und verstehendem Andenken bewahren‹ kann.
    Gegen eine solche gesellschaftskritisch sein sollende Beurteilung, die in Wirklichkeit eine sentimentale kitschige Verherrlichung und Empfehlung ist, die mir einer Karl-May-Psychose zu entstammen scheint, protestiere ich. Menschen wie Sandweg und Velte sind samt all ihren Opfern zu bedauern, aber diese beiden sind keine Helden der sozialistischen Jugend.
    Vielleicht wirft man mich deshalb zu den kleineren Leuten, aber da ich als Sozialist nicht das Leben der Velte und Sandweg führen kann, werde ich auch nicht durch meinen Tod beweisen, dass ich zu den ›Menschen von Format‹ gehöre.«

23
    Als mein Großvater am folgenden Dienstag mittags vor der Post auftauchte, brachte er keine Rosen mit, sondern eine gerollte Morgenausgabe der »National-Zeitung«, mit der er sich bei jedem Schritt gegen die Hosennaht schlug. Er nahm neben Großmutter auf der Sitzbank Platz, strich die Zeitung auf seinem Schoß glatt, rollte sie wieder zusammen und strich sie erneut glatt.
    »Na, heute kein Training?« fragte Großmutter.
    »Heute schon Zeitung gelesen?« entgegnete Großvater.
    »Ich lese nie Zeitung.«
    »Die zwei Mörder sind gestern bestattet worden.«
    »Ach ja?«
    »In Basel. In anonymen Anatomiegräbern.«
    »Aha?«
    »Selbstmörder haben kein Anrecht auf ein christliches Begräbnis.«
    »Aha.«
    »Soll ich’s dir vorlesen?«
    Marie gab keine Antwort. Sie blickte starr geradeaus auf die Landstraße, auf der es in der mittäglichen Ruhe nichts zu

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