Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
baselstädtischen Regierung zehntausend Franken zur Verfügung für die Hinterbliebenen von Jacques Beutter, Arnold Kaufmann, Hans Maritz, Alfred Nafzger, Franz Zellweger und Jakob Vollenweider.
*
Tausende von Menschen zogen am folgenden Mittwoch auf den Friedhof am Hörnli, zur Totenfeier der drei erschossenen Polizisten – zu Fuß, in überfüllten Autobussen und in langen Reihen von Privatautos. Voran marschierte die Polizeimusik, gefolgt von vierhundert Basler Polizisten, dann Polizeidelegationen aus der ganzen Schweiz, deutschen Ordnungshütern mit Tschako und Pickelhaube sowie französischen Gendarmen mit flachen Mützen, und schließlich die Basler Bevölkerung, scharf beobachtet vom Reporter der »National-Zeitung«. »Ernsthafte Männer und Frauen sah man hier daherschreiten aus dem Gefühl heraus, irgendwie den Opfern und deren Familien ihre Anteilnahme zu bezeugen.«
Unter ihnen schritten auch Marie Stifter und Ernst Walder daher – er aus einem Gefühl schlecht versteckten Triumphs heraus, sie irgendwie bebend vor ebenso schlecht verstecktem Zorn.
Der Weg zum Hörnli war sehr weit.
»Ist dir kalt?« fragte er. »Möchtest du umkehren?«
»Wieso sollte ich umkehren wollen?«
»Nur so. Falls dir kalt ist.«
»Wir haben hingewollt. Jetzt gehen wir hin.«
Als sie am Hörnli anlangten, hatte die Totenfeier schon begonnen. Der Aufgang zur Kapelle war mit Kränzen bedeckt, die Kapelle zum Bersten gefüllt. Ernst nahm Marie am Arm, bahnte sich mit schulmeisterlicher Autorität einen Weg durch die Menge und war erst zufrieden, als sie in der ersten Reihe vor den drei Särgen standen, inmitten von Regierungsräten, hohen Militärs und geistlichen Würdenträgern. Dann begannen die Ansprachen: eine katholische für Jakob Vollenweider, je eine evangelische für Hans Maritz und Alfred Nafzger, gefolgt von einer weltlichen Rede von Polizeidirektor Carl Ludwig namens der Basler Regierung.
Die Feier war sehr lang.
»Ist dir immer noch nicht kalt?« flüsterte Ernst, der seinen Sieg ausgekostet hatte und jetzt gern zur Versöhnung bereit gewesen wäre. »Wir können heimgehen, wenn du willst.«
»Psst!« zischte Marie. »Wieso sollte ich heimgehen wollen!«
Marie und Ernst blieben bis zum Schluss der Feier, und zwar in der vordersten Reihe. Nach einem Vortrag der Gesangssektion des Polizeikorps ehrte die Fahne des Polizeischützenvereins zum letzten Mal die Toten. Dann würdigte der Sprecher des Polizeimännervereins die drei verdienstvollen Beamten, grüßte sämtliche Delegationen auswärtiger Polizeikorps, verdankte und verlas die zahlreichen eingegangenen Zuschriften. Nach einem Choral der Polizeimusik und einem gemeinschaftlichen Gebet wurden Maritz’ und Nafzgers Särge zur Einäscherung ins Krematorium gebracht, jener von Vollenweider hinüber zum Grab gezogen und der Erde übergeben, während die Polizeimusik den letzten Gruß ins Grab sandte.
Langsam flutete die Menschenmenge heimwärts. Damit sie nicht voneinander getrennt wurden, nahm Ernst Marie am Oberarm. Dabei berührte er versehentlich ihre Brust, wofür er sich entschuldigte und sie ihn mit einem Stirnrunzeln strafte.
»Möchtest du schon heimfahren?« fragte er. »Oder wollen wir spazierengehen?«
»Spazieren? Wohin?«
»Zum Rheinhafen. Wenn du magst. Schiffe anschauen.«
»Habe ich schon gesehen. Aber meine Tante habe ich schon lange nicht mehr besucht.«
»Welche Tante?«
»Tante Erna. Auf dem Wolfsacker. Hast du etwas dagegen, dass wir sie besuchen?«
»Wieso sollte ich etwas dagegen haben?«
»Wenn’s dir nicht recht ist, müssen wir nicht hingehen.«
»Wieso sollte es mir …«
Undsoweiter.
24
Bald ging das Leben in Basel wieder seinen gewohnten Gang. Zwar spielten die Kinder in den Schulhöfen noch monatelang »Sandweg und Velte«, und jeder wollte Räuber und keinesfalls Polizist sein; zwar unterstellte die Stadt Waffenbesitz einer strikten Bewilligungspflicht und ersuchte die Landesregierung um sofortige Verstärkung des Grenzschutzes; zwar machte die Polizei noch eine Weile strenge Personenkontrollen in der Innenstadt – aber es sollte Jahrzehnte dauern, bis in Basel wieder auf Polizisten geschossen wurde.
Und sonst?
Der mausgesichtige Kontorist Lindner blieb der Gablenberger Bank bis zuletzt treu. Elf Jahre lang duckte er sich unter dem Nachfolger des erschossenen Filialleiters, der ein genauso strammer Volksgenosse war wie Feuerstein. 1944 wurde er beim Bombardement Stuttgarts von einer
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