Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
sehen gab. Ernst schlug die Zeitung auf und las vor: »… hat die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt über Polizeifunk in Wuppertal anfragen lassen, was mit den Leichen Sandwegs und Veltes zu geschehen habe. Beide Familien verzichteten auf eine Heimschaffung. Waldemar Veltes Vater meldete sich zwar zunächst telegraphisch zur Bestattung in Basel an, teilte dann aber auf nochmalige Befragung mit, dass er aus finanziellen Gründen von der Reise absehe. Darauf hob der Staatsanwalt die Beschlagnahme der Leichen auf. Soll ich weiterlesen?«
»Wenn du willst.«
»Nicht unbedingt.«
»Warum willst du’s mir vorlesen?«
»Nur so.«
»Findest du, dass mich das interessieren müsste?«
»Nein«, sagte Ernst.
»Na gut. Wo sind sie begraben – am Hörnli?«
»Wieso am Hörnli?«
»Nur so. Also wo?«
»Moment.« Er schlug die Zeitung auf. »Hier: auf dem Gottesacker Wolf. Keine Ahnung, wo der ist.«
»Aber ich. Zwischen dem Güterbahnhof und dem Fußballstadion.«
»Aha.« Ernst warf Marie einen argwöhnischen Seitenblick zu. »Wieso weißt du das?«
»Eine Tante von mir liegt da.«
»Ach ja?«
»Tante Erna. Ich sollte sie wieder einmal besuchen.«
Ernst glaubte nicht an die Tante auf dem Wolfsacker. Er legte die Zeitung zwischen sich und Marie auf die Bank, dann kraulte er Hassos Fell. Sie fuhr mit dem Daumennagel die Seitennaht ihres Rocks hinauf und hinunter. Bald würde der Postmeister aus dem Mittagsschlaf erwachen, dann wäre die Besuchszeit vorbei. Ernst griff wieder nach der Zeitung.
»Hier steht, dass morgen die Opfer der Mörder bestattet werden.«
»Aha.«
»Auf dem Hörnli.«
»Aha.«
»Eine große Zeremonie. Öffentlich.«
»Hm.«
»Ich habe mir gedacht, wir könnten hingehen.«
»Wer – du und ich?«
»Ja. Möchtest du etwa nicht hingehen?«
»Wieso?«
»Nur so. Wenn du nicht hingehen willst, kannst du es mir sagen.«
»Wieso sollte ich nicht hingehen wollen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Oder MUSS ich etwa hingehen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Findest du, dass ich da hingehen MUSS? Nur weil ich EINMAL mit denen spazierengegangen bin?«
»Zweimal. Aber das habe ich nicht gesagt.«
»Ich MUSS da nicht hingehen.«
Dann saßen sie wieder stumm nebeneinander mit trotzig vorgeschobenen Unterlippen. Die Mittagspause neigte sich dem Ende zu. Auch Hasso fühlte das. Er stand auf, gähnte und streckte sich, trottete hinüber zu seinem Wassernapf und trank einen Schluck. Er lief über den Hof zur Landstraße, schaute argwöhnisch erst nach Süden, dann nach Norden und bellte kurz. Dann kehrte er zur Sitzbank zurück und ließ sich wieder zu Füßen von Marie nieder.
»Ich MUSS da nicht hingehen«, sagte sie. »Aber ich sehe nicht ein, wieso ich da NICHT hingehen soll.«
»Natürlich nicht.«
*
»Beschluss der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt vom 27. Juni 1934: Das Strafverfahren gegen Waldemar Velte, preußischer Staatsangehöriger, geboren 4. August 1910 , ledig, Techniker, und Kurt Sandweg, preußischer Staatsangehöriger, geboren 3. August 1910 , ledig, Schlosser, betreffend:
erstens Mord, begangen an Arnold Kaufmann, Jacques Beutter, Jakob Vollenweider, Alfred Nafzger und Hans Maritz; betreffend zweitens Mordversuch, begangen an Walter Gohl; betreffend drittens rechtswidrigen Gebrauch von Fahrzeugen (1 Auto und 2 Fahrräder), wird eingestellt wegen Todes der beiden Angeschuldigten.
Von den im Zimmer gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Munitionstasche, 1 Pistolentasche, 1 Dietrich, 1 Pistolenmagazin, 1 Futteral, 2 Taschenlampen, 1 Taschennotizbuch, 1 Totschläger, 14 Fotografien, 1 schwarzer Filzhut. Von den auf der Leiche des Velte gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Walterpistole, 1 Magazin mit 7 Patronen, 2 Autoschlüssel, 1 Notizbuch. Von den auf der Leiche des Sandweg gefundenen Gegenständen bleiben beschlagnahmt: 1 Pistole DRGM, 1 Schlüsselbund mit 3 Schlüsseln und 6 Autosteckschlüsseln, 1 Dietrich, 1 Lederetui mit 2 Autoschlüsseln. Die übrigen Sachen stehen zur Verfügung der Angehörigen. Der sichergestellte Damenschirm geht zurück an Fräulein Viktoria Schupp, Palmenstraße 23.«
*
Hilde Velte: »Was mit den Sachen geschehen ist, weiß ich nicht. Wir haben nichts davon haben wollen. Ich glaube, die werden normalerweise dann versteigert. Nein, auch das Reisegrammophon und die Schallplatten wollten wir nicht. Hätten wir die vielleicht abspielen sollen?«
*
Die Schweizerische Kreditanstalt stellte der
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