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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedict Wells
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Kind bleiben.“ Sie hatte gelächelt und
Francis nach seinem Bruder gefragt, und dann hatten sie den ganzen Nachmittag
nebeneinandergesessen und geredet.
    Als er am nächsten Tag die Station betrat, sah er
Anne-May im Fernsehzimmer sitzen. Gebannt sah sie sich einen Film über Kirsten
Dunst und ihre Cheerleader-Freundinnen an. Er wollte sich schon dazusetzen, da
hörte er Anne-May schluchzen. Francis wusste nicht, was er machen sollte.
Schließlich sagte er laut: „Hallo!“
    Anne-May wischte sich schnell die Augen trocken, und
gemeinsam schauten sie sich den Film zu Ende an. Immer wieder lachte sie. Hätte
er es nicht miterlebt, wäre Francis niemals auf die Idee gekommen, dass sie
gerade geweint hatte.
    Sie gingen auf ihr Zimmer. Anne-May erzählte von
einer Mitpatientin, die auf der Station angeblich mit Medikamenten wie
Meskalin und Valium dealte. Das war ihr Lieblingsgerücht. Dann warf sie sich
mit einem Satz aufs Bett und schaute Francis einfach nur an.
    „Was ist?“, fragte er, die Hände in den
Jeanstaschen.
    „Nie zeigst du Gefühle ... Ich meine, wann hast du
das letzte Mal richtig geweint?“
    „Weiß ich nicht. Ich weine eigentlich nie.“
    „Gelogen, Dean! Und ich wette, du weißt, wann du das
letzte Mal geweint hast. Erzähl mir mal was von dir, was du sonst keinem
sagst.“
    Er musste nachdenken. „Also gut“, sagte er und nahm
die Hände aus den Taschen. „Ich hab vor einem Jahr mit dem Ringen aufgehört.
Sogar mein Coach glaubt, dass es wegen der Schmerzen in meinem Knie war. Aber
das hab ich nur erfunden. Du musst wissen, dass sich die beiden Gegner vor
jedem Ringkampf in die Augen schauen. Jeder versucht entschlossen und überzeugt
auszusehen. So hab ich's die letzten Jahre immer gemacht, und bei den Schwachen
hat's auch funktioniert. Aber dann gab es noch die, bei denen die
Entschlossenheit nicht gespielt war, sondern die wirklich von sich
überzeugt waren. Sie hatten was in ihrem Blick, das war... Ich kann's nicht
erklären. Es war, als würden sie mir zeigen, dass mir etwas Bestimmtes fehlte.
Wenn ich ihnen in die Augen geschaut habe, bin ich innerlich sofort
eingebrochen ... Ich hab meine wichtigen Kämpfe einfach nicht mehr gewonnen,
ich hatte Angst. Deshalb hab ich aufgehört.“
    Für seine Verhältnisse hatte Francis außergewöhnlich
lange geredet. Gespannt wartete er auf ihre Antwort, aber sie sah ihm nur ins
Gesicht und sagte nichts. Sie hat keine Freundinnen, dachte er, Anne-May hat
vorhin im Fernsehraum geweint, weil sie keine Freundinnen hat.
    Francis ging zum Fenster. Unten fuhr ein Auto
vorbei, in der Ferne sah er die Ölraffinerie, grauer Rauch stieg auf. Er dachte
an Grover und dass dieser bald studieren und wegziehen würde. „Wie ich dieses
verdammte Kaff hasse...“, murmelte er.
    „Ach komm, so schlimm ist Claymont nicht.“
    Ihm fiel ein, dass Anne-May mit ihrer Familie
außerhalb der Stadt wohnte, in einem großen Anwesen im Grünen, wo sie zwei Jack
Russell hatten. „Ach, egal.“ Er schaute wieder aus dem Fenster, ein paar
Sekunden lang schwiegen sie.
    „Eine Frage ...“ Anne-Mays Stimme schnitt in die
Stille. „Was denkst du eigentlich selbst von dir?“
    Francis war überrascht, das hatte ihn noch nie
jemand gefragt. Und wenn er ehrlich war, wusste er es nicht. Er hatte nur das
Gefühl, den selbstbewussten, glücklichen Jungen, der er früher gewesen war,
genauso in sich zu tragen wie den gebrochenen Versager, der er vielleicht
einmal sein würde. Und natürlich war ihm klar, dass er nicht der brillante Typ
war, der einen glänzenden College-Abschluss hinlegen oder ein kleines
Theaterstück schreiben würde. Doch er war auch nicht so dumm, wie die meisten
Leute dachten. Zu gut hatte er noch im Kopf, wie leicht ihm die Dinge früher
gefallen waren, wie sicher alles gewesen war. Er wusste, dass er nur einen
kleinen Schubs in die richtige Richtung brauchte.
    „Was denkst du denn von mir?“, fragte er zurück.
    „Das würdest du gern wissen.“
    „Nein, eigentlich nicht. Ich weiß sowieso, was du
von mir denkst.“
    „Ich bin gespannt.“
    „Du denkst: Ach, ist dieser Typ heiß, jeden Tag
hoffe ich, dass er mich in der Klinik besucht, und wenn er dann da ist, tue ich
so, als wäre es mir egal, damit er nichts merkt.“
    Francis grinste, bis er fast von einem Kissen getroffen
wurde, er konnte es gerade noch vor seinem Gesicht abfangen. „Hey, was soll
das? Bist du verrückt?“
    Anne-May zuckte mit den Schultern. Dann warf sie ein
weiteres Kissen nach

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