Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
Himmel war immer noch grau, aber zwischen den Wolken schimmerten ein paar milchige Sonnenstrahlen. Das Pferd sprengte auf der alten, von Unkraut überwucherten Straße hinter dem Bauernhaus heran.
Den Dolch in einer Hand, schob Clio die Plane ein wenig zur Seite. „O Gott“, flüsterte sie. War sie auf dem Kellerboden eingeschlafen? Wurde sie von einem Albtraum gepeinigt?
Ein glänzender Rappe – vielleicht ähnlich einem der Tiere, die Hades’ Streitwagen gezogen hatten, als er mit der unglücklichen Persephone in die Unterwelt gefahren war – galoppierte auf die Ruine zu. Und im Sattel saß der Mann, der viele Hundert Meilen entfernt sein müsste. Zumindest hatte sie das gehofft. Averton. Das lange goldene Wikingerhaar flatterte hinter ihm her, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinem schwarzen Reitanzug schien er mit dem Hengst zu verschmelzen.
Wie ein Zentaur. Oder wie der gebieterische Hades, ein gefährlicher, attraktiver Lord, der sich nahm, was er wollte, ohne Rücksicht auf die Folgen.
Am Rand der Ausgrabung zügelte er sein Pferd, und Clio sah sein markantes Gesicht, während er sich umschaute.
Heller Zorn stieg in ihr auf. Wie konnte er es wagen , hier zu erscheinen – nach allem, was in England geschehen war?
Sie zerrte die Teerplane beiseite, eilte die restlichen alten Stufen hinauf, den Dolch in der Hand.
„Was machen Sie hier?“, rief sie. „Hier befinden Sie sich auf privatem Grund und Boden. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sofort verschwinden würden!“
Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick. Nur selten änderte sich seine kühle Miene, zeigte höchstens arrogante Verachtung. Nur ein paar Mal hatte sie eine wilde, furchterregende Leidenschaft in seinem Gesicht gelesen.
Jetzt hob er die Brauen, nur ein wenig, und sie sah eine weiße Narbe auf seiner Stirn.
„Oh, schützen Sie seit Neuestem privates Eigentum, Clio Chase?“, fragte er spöttisch. „Wie faszinierend …“
„Was wollen Sie?“ Clio umklammerte den Griff des Dolchs noch fester und bekämpfte vehement den Impuls, die Flucht zu ergreifen.
„Nun, ich möchte mit Ihnen sprechen“, erklärte er in sanftem Ton. „Das ist alles, ich schwöre es.“
„Also gut, reden Sie.“
Rastlos scharrte der Rappen mit den Hufen, und Avertons schwarz behandschuhte Finger umfassten die Zügel etwas fester. „Wenn ich absteige – werden Sie mich mit dieser beängstigenden Waffe erstechen?“
Ein paar Sekunden lang starrte sie ihn an und spürte die beklemmende Spannung, die in der Luft lag. Nur ganz selten begegnete sie einem Menschen, der einen genauso starken Willen besaß wie sie selber. Aber wie sie aufgrund früherer Begegnungen wusste, war der Duke ein ebenbürtiger Widersacher. Unerbittlich würde er ihr folgen, wenn sie davonrannte.
Und so nickte sie. „Einverstanden. Aber bleiben Sie, wo Sie sind. Halten Sie sich fern von meinem Haus.“
„ Ihr Haus?“, fragte er sarkastisch. Dann schwang er sich aus dem Sattel und hielt sein Pferd, das im Klee zu grasen begann, am Zügel fest. „Darf ich hier stehen bleiben?“
Wieder nickte sie. „Was wollen Sie mit mir besprechen? Offenbar ist es wichtig, nachdem Sie den weiten Weg auf sich genommen haben.“
„O ja.“ Zu ihrer Verblüffung verstummte er und musterte sie, als hätte er sie noch nie im Leben gesehen – als wäre sie ein sonderbares Geschöpf, ein Einhorn oder ein Phönix.
„Hat jemand Ihre kostbare Alabastergöttin gestohlen, Sir? Ich war es nicht. Das gelobe ich. Seit Wochen halte ich mich in Sizilien auf. Oder vielleicht war es …“
„Clio“, unterbrach er sie, leise und herrisch zugleich, „ich kam hierher, weil Sie in Gefahr schweben.“
4. KAPITEL
Was Clio da hörte, konnte sie kaum fassen. War es vielleicht doch ein Traum? Gewiss, jede Minute, die sie mit Averton verbracht hatte, war bizarr gewesen. Aber diese Begegnung …
„Sagten Sie soeben, ich sei in Gefahr?“, fragte sie und forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen, die auf einen Scherz oder eine raffinierte List hinweisen würden.
Doch sie sah nichts dergleichen. Seine ausdrucklose Miene änderte sich nicht. Nur in seinem Kinn zuckte ein winziger Muskel.
Krampfhaft rang sie nach Atem. Das Gewitter hatte eine schwüle, stickige Atmosphäre hinterlassen. Aus dem grauen Himmel schienen unsichtbare Schnüre herabzufallen, die sie an den Duke fesselten – als würden missgünstige Götter die Sterblichen in einen unheilvollen Bann ziehen …
Clio schüttelte den
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