Fatal - Roman
beiden Jahren nicht mehr verlassen. Wenn sie Will auch nicht zur Welt gebracht hatte, so war sie doch auf die Welt gekommen, um seine Mutter zu werden.
Ihr Blick fiel wieder auf den Flyer. Plötzlich empfand sie Mitleid mit der Familie der Bravermans. Welche Qualen mussten sie erdulden? Wie käme sie damit zurecht, wenn jemand Will entführen würde?
Vor ein paar Jahren hatte sie eine Story über einen Vater geschrieben, der nach einem Streit um das Sorgerecht seine Kinder entführt hatte. Ellen spielte mit dem Gedanken, die Mutter, Susan Sulaman, wegen einer Fortsetzung der Story anzurufen. Wenn sie ihren Job behalten wollte, musste sie ständig neue Ideen parat haben. Und ein Treffen mit ihrem neuen Chef, Marcelo Cardoso, ließe sich auf diese Weise auch arrangieren. Cardoso war Brasilianer und sah sexy aus. Er war vor einem Jahr zur Zeitung gekommen. Die L. A. Times und ein Model, mit dem er liiert gewesen war, hatten dafür gesorgt, dass er seine Zelte in Kalifornien abbrach. Vielleicht wäre eine alleinerziehende Mutter eine willkommene Abwechslung für ihn? Vielleicht würde ihm eine Lektion in Beschaulichkeit nach seinen wilden Jahren guttun?
Ellen musste schmunzeln, was ihr peinlich war, auch wenn einzig der Kater etwas davon mitbekam. Eigentlich war sie zu clever, um sich in ihren Boss zu verknallen, doch Marcelo war der Antonio Banderas der Redaktionsstuben. Und wie lange war sie schon nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, der älter als drei Jahre war? Ihr früherer Freund hatte sie eine Nervensäge genannt. Marcelo verstand sich sicher gut auf Nervensägen - es waren doch die einzigen Frauen, für die es sich zu kämpfen lohnte.
Sie befreite die restlichen Hühnchenstücke von der Currysoße und stellte ihren Teller Oreo Figaro hin, der
laut schnurrend alles auffraß. Sein langer Schwanz stand wie eine gekrümmte Häkelnadel in der Luft. Sie wartete, bis er fertig war, wischte den Tisch ab und legte die Rechnungen in einen Weidenkorb. Die Werbung warf sie weg, einschließlich des Flyers mit den vermissten Kindern. Doch Timothy Braverman starrte sie auch aus der Mülltüte heraus an.
Lass gut sein , hörte sie ihre Mutter sagen, als stünde sie neben ihr. Aber Ellen glaubte, dass Frauen es nie gut sein lassen konnten. Das war der Fluch ihres Geschlechts.
Sie schloss den Deckel des Mülleimers, und der Flyer war für den Moment vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Als sie die Spülmaschine füllte, sagte sie sich wieder einmal, dass sie doch zufrieden sein könne. Da waren die Glasschränke, die Arbeitsflächen aus Buchenholz, die handbemalten Fliesen, passend zur zartrosafarbenen Wand. Eine richtige Mädchenküche. Nicht umsonst hieß die Wandfarbe »Aschenputtel«. Aber wo war der Prinz?
Sie erledigte die noch ausstehenden Hausarbeiten, schloss die Hintertür und säuberte die Kaffeemaschine. Als sie den Kaffeesatz in den Müll beförderte, war Timothy Braverman wieder da. Ihre Seelenruhe war dahin.
Sie nahm den Flyer aus dem Müll und steckte ihn in die Tasche ihrer Jeans.
3
Der Wecker läutete um Viertel nach sechs. Ellen stieg im Dunkeln aus dem Bett, taumelte barfuß über die kalten Kacheln im Badezimmer und stellte die Dusche an. Das heiße Wasser weckte sie auf. Selbst Menschen, die sich gern einredeten, wie zufrieden sie doch seien, hatten zu dieser Stunde keine Zeit für solche Gedanken.
Sie musste um sieben Uhr fertig sein, um Will aufzuwecken und für den Kindergarten anzuziehen, der um 8 Uhr 30 begann. Connie kam um 7 Uhr 30; im fliegenden Wechsel übernahm sie Will, machte ihm Frühstück und brachte ihn weg. Diesen Wettlauf mit der Uhr absolvieren alle Mütter jeden Morgen, und alle haben eine Goldmedaille dafür verdient.
»Hallo, mein Schatz.« Ellen machte Licht. Die Lampe mit Babar, dem Elefanten, beschien Wills Gesicht. Er schlief fest. Sein Mund stand halb offen, er atmete leicht röchelnd, die Stirn fühlte sich heiß an. Ellen befahl sich, ruhig zu bleiben. Ein sinnloses Unterfangen, denn ein krankes Kind beunruhigt jede Mutter.
»Will«, flüsterte sie. Ob sie ihn in den Kindergarten schicken sollte? Seine Nasenlöcher waren verstopft, und die Wangen wirkten im milden Licht der Lampe blass. Seine Nase ähnelte der ihren, deshalb meinten viele, Will wäre ihr leibliches Kind. Ein Irrtum, der ihr viel zu gut gefiel. Sie fragte sich, ob Timothy Braverman seiner Mutter ähnlich sah.
Sie streichelte Wills Arm - keine Reaktion. Deshalb beschloss sie, ihn heute
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