Fay - Das Vermaechtnis des Blutes
kaum in Jos Richtung zu blicken.
Was sie dann zu sehen bekam, trieb ihr den Unglauben endgültig aus, an dem sie zuvor so vehement festgehalten hatte. Vor ihr stand ein hellerleuchtetes Lichtwesen. Ein Fay von solcher Anmut, dass es ihr die Sprache verschlug. Weder ihr versiegelter Mund noch ihre verknotete Zunge hätten je die richtigen Worte über ihre Lippen kommen lassen können, die ihre Verblüffung zum Ausdruck bringen konnten. Einzig die Ansammlung von flüssiger Demut die in ihren Augenwinkeln hervorquoll, vermochte es ihre Ergriffenheit zu beschreiben. Wie schimmernde Salzperlen kullerten einige Tränen über ihre Wangen, tropften vom Kinn und versickerten im Gewebe ihres Kleides.
Jo hatte in keiner einzigen Silbe seiner Geschichte eine Unehrlichkeit von sich gegeben. Die ganze Zeit über hatte er die Wahrheit gesagt. Dalila konnte ihren Blick nicht mehr von dem Wesen nehmen. Ihre moosgrünen Augen waren weit aufgerissen und ertranken förmlich in seiner Schönheit. Jos Haar war schlohweiß. Jedoch schillerten vereinzelte Strähnen wie Perlmutt hindurch. So wie die gläsernen Fäden eines Spinnennetzes, an dem sich im Morgengrauen Tautropfen gebildet hatten.
Intensiv leuchtende Augen blickten ihr warmherzig entgegen, die wie Juwelen um die Wette funkelten. Geschliffene Amethysten, die in kohlschwarze Ovale eingefasst waren. Sein Blick durchdrang den Teenager. Er bohrte sich durch Dalilas Herz und las in ihrer Seele binnen Bruchteile eines Wimpernschlags. An seinem Körper trüg er nichts als weiße Leinenhosen. Somit hatte man freie Sicht auf seinen definierten Oberkörper. Doch weder besaß er ein schillerndes Paar Flügel noch spitze Ohren. Seine Haut war blass und makellos wie die einer Porzellanpuppe. Weiß wie hauchfeiner Reispuder. Und über seine Ober- und Unterarme verliefen seltsame rotbraune Symbole die sie nicht zu deuten wusste.
Dalila war von seiner Schönheit überwältigt. Selbst in ihren kühnsten Träumen wäre sie niemals dazu imstande gewesen solch eine wunderschöne Kreatur zu erschaffen. Jo leuchtete nicht nur innerlich sondern auch äußerlich. Denn ein grünlicher Schein umhüllte seinen ganzen Körper, der auf seine Patin eine gottgleiche Wirkung hatte.
Dalila verspürte auf ihrer Haut ein angenehmes Kribbeln. Ein Gefühl von Geborgenheit kam über sie. Sie fühlte sich mit einem Mal so unbeschwert wie schon seit Langem nicht mehr. Lange hielt ihr Zustand der Glückseligkeit jedoch nicht an, denn dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie Jo und auch Daphne für Lügner gehalten hatte. Erfüllt von tiefer Scham die beiden der Schwindelei bezichtigt zu haben, wendete sie ihren Blick ab.
Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass all die Fantasiefiguren die sie aus ihren Büchern kannte tatsächlich existierten, wenn auch in anderer Form?
Noch viel bedrückender für sie war jedoch die neu gewonnene und gleichsam unschöne Erkenntnis, dass sie nun wirklich ein Halbblut war. Das besorgte Mädchen schluckte mehrmals, um den Kloß der Beklemmung der sich in ihrer Kehle gebildet hatte herunter zu würgen. Die Gewissheit über ihren unumkehrbaren physischen Zustand beunruhigte sie. Für sie tat sich dadurch ein völlig neuer Lebensaspekt auf, dem sie nicht mehr entfliehen konnte. Wenn sie nicht einwilligte ihre neue Macht anzunehmen, dann würde sie Daphne und Jo enttäuschen. Und womöglich früher oder später sogar in die Fänge von Edrell und seinem Gefolge geraten. Im Umkehrschluss bedeutete dies jedoch auch für sie, dass sie kämpfen musste. Und das obwohl ihr Gewalt ein Gräuel war. Ihr blieb demnach gar nichts Anderes übrig, als ihr neues Leben anzunehmen und sei es nur, um sich vor den Dunklen zu schützen. Doch bis es so weit war, wollte sie diesen Gedanken verdrängen und so weit wie möglich von sich schieben.
Die momentane Verweigerung sollte zu Dalilas Verbündeten werden. Gemeinsam mit ihrer Starrköpfigkeit und dem Part ihrer Menschlichkeit konnte sie vorerst die Tatsache, dass ein halber Fay in ihr schlummerte, beiseiteschieben. Nachdem sie sich diesen Plan zurechtgelegt hatte, begann sie augenblicklich damit die Angelegenheit so zu betrachten, als sei sie nur ein neugieriger Zuschauer am Rande, der völlig unbedarft an die Sache heran trat. Dies war für sie in ihrer noch unbeholfenen Naivität die einzige Herangehensweise gewesen um mit der Bürde umgehen zu können. So konnte sie langsam in ihre Rolle als Mischwesen, entstanden aus dem Erbgut eines
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