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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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anderen und sah zu, wie ich sie mir schmecken ließ. Dann schwand die Freude von ihrem Gesicht. Schluchzend zog sie mich an sich und streichelte über mein Haar. Während sie mich hin und her wiegte, flüsterte sie immer wieder: »Ich will nicht, dass sie dich wegbringen, Maomao.«
    Bei diesen Worten musste ich weinen. »Ich möchte auch nicht weg, Großmama. Ich will bei dir bleiben.« Ich wusste nicht, wer »sie« waren und wohin ich gebracht werden sollte. Aber ich hatte Angst und klammerte mich an sie.
    Nach einer Weile wischte sie sich die Tränen ab und trocknete auch mein Gesicht. »Geh, spiel mit deinen Schwestern«, sagte sie. »Großmama braucht jetzt Ruhe.«
    Die Stimmen aus dem Nebenzimmer rissen mich aus meinen Erinnerungen an Tianjin.
    »Das tut mir leid«, hörte ich Mama sagen.
    »Mutter ist völlig abgemagert und hat keine Kraft mehr. Wir haben einen Arzt geholt. Bei der Untersuchung stellte er ein Ödem fest. Infolge von Unterernährung. Wir konnten doch nicht zulassen, dass sie ihrer Enkelin zuliebe stirbt!«
    »Ihr habt das Richtige getan«, sagte Papa.
    »Wie hat Mutter reagiert, als sie hörte, dass ihr Maomao hierher bringt?«, fragte Mama.
    »Wir haben es ihr nicht gesagt.«
    »Du … hast ihr … nichts gesagt?«, rief Mama.
    »Yikai«, antwortete der Onkel, »wir haben entschieden, dass sie es erst im Nachhinein erfahren soll. Sie wird weinen und schmollen. Aber am Ende wird sie sich damit abfinden. Dann wird sie auch wieder essen und gesund werden.«
    »Wie knapp ist die Versorgung in Tianjin?«, fragte Mama.
    »Es reicht hinten und vorne nicht«, antwortete der Onkel. »Keiner hat genug zu essen. Aber wir leben noch. Es ist überall dasselbe. Diese Hungersnot!« Er dämpfte die Stimme: »Vier Jahre geht das schon so. Vier lange Jahre! Bauern kommen nach Tianjin und verkaufen ihre ganze Habe. Sie betteln. Sie verkaufen ihre Kinder. Und wenn sie keinen Käufer finden … ich will gar nicht daran denken. Man findet sie auf der Straße. Am Flussufer. Auf den Eisenbahnschienen.«
    »Hier ist es genauso«, sagte Mama. »Nur der Schwarzmarkt rettet uns vor dem Verhungern. Und wir drei – ich meine, jetzt wir vier – müssen von meinem Gehalt leben.«
    »Wirst du wieder arbeiten, Ningkun?«, fragte der Onkel.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Papa. »Keine Arbeit. Kein Gehalt. Keine medizinische Versorgung.«
    »Wie viele sind gestorben?«, fragte Mama.
    »Millionen«, erwiderte Papa. »Viele Millionen. Das habe ich jedenfalls gehört, und ich glaube es auch.«
    »Ich habe es auch gehört«, bestätigte der Onkel.
    »Warum?«, fragte Mama. »Hast du eine Erklärung?«
    »Hast du es nicht gehört? Es liegt am Wetter«, antwortete der Onkel. »Das ist die
offizielle
Erklärung.«
    »Wieso am Wetter?«, fragte Mama.
    »Gab es bei euch Probleme mit dem Wetter?«, fragte der Onkel. »Eine Überschwemmung? Oder eine Dürre?«
    »Nein«, antworteten Mama und Papa wie aus einem Mund.
    »Also liegt es nicht am Wetter«, sagte der Onkel.
    »Wird das jemals enden?«, fragte Mama.
    »Hoffentlich«, meinte der Onkel.
    »Uns bleibt nur noch die Hoffnung«, seufzte Mama.
    »Ja.«
    Es folgte langes Schweigen. Dann erlosch das Licht. Der Onkel kam ins Zimmer und legte sich auf das Bett neben meinem.
    »Papa«, sagte ich.
    »Maomao, schläfst du noch nicht?«
    »Fahren wir morgen zu Großmama?«
    »Maomao«, sagte er, »du weißt doch, ich bin dein Onkel.«
    »Onkel, fahren wir morgen zu Großmama?«
    »Nein.«
    »Bleiben wir hier?«
    »Das ist dein Zuhause. Du wirst jetzt hier wohnen.«
    »Aber ich will zu Großmama«, schluchzte ich. »Bitte, bring mich nach Hause zu Großmama! Ich verspreche auch, dass ich nie wieder ihre Erdnüsse esse.«
    »Schlaf jetzt, Maomao. Gute Nacht.« Er drehte sich um und zog sich die Decke über die Schultern.
    Am nächsten Morgen war der Mann fort, der mein Papa gewesen und mein Onkel geworden war. Ich war mit meiner neuen Familie allein.

Kapitel 4
    M ama stellte mir zum Frühstück eine Schale Reisbrei hin. »Du wirst dich hier wohlfühlen«, versicherte sie mir. »Heute wollen wir etwas ganz Besonderes unternehmen. Nur wir zwei, Maomao und Mama.« Lächelnd strich sie mir das Haar aus dem Gesicht. »Ich nehme dich mit ins Büro.«
    Mama arbeitete als Schreibkraft an der fremdsprachigen Fakultät der Universität. Wegen Papas politischer Vergehen hatte man ihr das Unterrichten verboten, obwohl sie fließend Englisch sprach. Ihre beiden Kolleginnen im Büro schwirrten um

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