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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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»Kommt rein«, sagte die Frau. »Ihr müsst hungrig und müde sein.« Sie kniete sich hin und hob meine Puppe auf, die ich achtlos fallen gelassen hatte. Bevor sie sie mir wieder in die Hand drückte, sagte sie: »Ich habe dir diese Puppe geschenkt, Maomao. Erinnerst du dich?«
    »Sie hat Angst«, sagte Papa. »Und sie ist schüchtern.«
    Er trug mich den Korridor entlang in ein Zimmer, wo Stühle um einen gedeckten Tisch standen.
    »Wo ist Großmama?«, fragte ich. Doch ich bekam keine Antwort. »Komm her, Maomao«, sagte die Frau. Papa reichte mich ihr. Zwar klammerte ich mich mit aller Kraft an ihm fest, doch er machte sich los. Als mich die Frau an sich zog, fiel ihr Blick auf meine Füße. »Wo sind ihre Schuhe?«, fragte sie.
    »Leider haben wir sie im Zug vergessen«, antwortete Papa.
    »Na, ich finde schon was für sie«, meinte die Frau und trug mich in ein kleines Zimmer nebenan. Dort setzte sie mich aufs Bett und zog mir Pantoffeln an. »Geh langsam damit, Maomao, dann verlierst du sie nicht, und sie halten deine Füße warm.«
    Daraufhin reichte sie mir die Hand und half mir, vom Bett herunterzurutschen. Ich blieb an ihrer Seite, doch als wir das Zimmer verließen, glitten meine Füße aus den Pantoffeln. Also blieb ich stehen, tastete mit den Zehen nach den Pantoffeln und schlüpfte wieder hinein, ohne die Hände zu benutzen.
    Die Frau lachte. Seite an Seite und Hand in Hand gingen wir mit kleinen Schritten, damit ich die Pantoffeln nicht wieder verlor, zu den anderen hinüber.

Kapitel 3
    E rst als ich am Tisch saß und mir das Essen vorgesetzt wurde, merkte ich, wie hungrig ich war. Gierig verschlang ich meine ganze Portion. Als ich die Schüssel hochhielt und um mehr bat, sahen mich alle groß an. »Es gibt nicht mehr, Maomao«, sagte Mama. Und dann: »Hört nur ihren Tianjin-Akzent. Die Kinder hier werden sie gar nicht verstehen.«
    Am Abend bauten der Onkel und Papa ein weißes Gitterbett aus Holz zusammen, und Mama legte mich hinein. Mein neuer Bruder, der Yiding hieß, schlief bei meinen Eltern im Bett, und für den Onkel gab es ein Bett neben mir.
    Ich lag in dem Kinderbett und lauschte den Erwachsenen im Nebenzimmer.
    »Ich weiß noch, wie du sie nach Tianjin gebracht hast«, erzählte der Onkel.
    »Im Februar 1960 «, sagte Mama. »Es hat mir das Herz gebrochen, aber was hätte ich tun sollen? Hätte ich sie behalten, wären wir alle verhungert.«
    »Ich weiß«, seufzte der Onkel.
    »Sie war eineinhalb«, sagte Mama.
    »Ja, sie hat jetzt zwei Jahre bei uns gelebt«, erwiderte der Onkel. »Bislang sind wir ihre Familie gewesen. Sie wird eine Weile brauchen, um sich einzugewöhnen.«
    Ich hörte, wie ein Zündholz angerissen wurde, und roch Zigarettenrauch.
    »Unsere Mutter hat für Maomao gehungert«, fuhr der Onkel fort. »Ich habe alles versucht, um sie daran zu hindern, aber immer hat sie einen Weg gefunden, ihr Essen Maomao zu geben. Also habe ich mit meinen Geschwistern darüber gesprochen. Wir haben beschlossen, dass es das Beste ist, Maomao zu euch zurückzubringen.«
    Seine Worte erinnerten mich an ein Erlebnis vor wenigen Tagen. Meine Schwestern und ich hatten Verstecken gespielt. Ich war in mein Zimmer geschlichen und hatte mich in einem großen Schrank hinter den Kleidern verborgen. Dann vernahm ich Schritte. Und gleich darauf hörte ich Großmama und den Onkel nur wenige Meter von mir entfernt reden.
    »Sie bringt dich um«, sagte der Onkel.
    »Nein«, entgegnete Großmama. »Keine Sorge. Sie ist ein Segen.«
    »Ich weiß, was ich sehe«, beharrte der Onkel. Pause, dann Papiergeraschel. »Das habe ich auf dem Schwarzmarkt gekauft«, sagte er. »Du überlässt ihr dein ganzes Essen. Aber sie ist gesund und du nicht. Versprich mir, dass du das hier essen wirst.«
    »Ich verspreche es.«
    Der Onkel ging, und ich trat aus dem Schrank. Großmama sah auf und lächelte. »Komm her«, flüsterte sie. Ich rannte zu ihr. »Iss das, schnell!«, sagte sie und reichte mir eine Tüte aus Zeitungspapier mit einem kleinen Häufchen gerösteter Erdnüsse.
    Ich stopfte mir einige in den Mund. Während ich kaute und schluckte, behielt Großmama die übrigen in der Hand. »Schnell«, drängte sie.
    Noch bevor ich fertig war, kam der Onkel zurück. »Was soll das?«, fragte er. Er roch meinen Atem.
    »Maomao ist meine Enkelin«, erwiderte Großmama, als würde das alles erklären.
    »So kann das nicht weitergehen«, erklärte der Onkel und verließ das Zimmer.
    Großmama gab mir eine Erdnuss nach der

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