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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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der Ecke warteten wir, bis ein Bus hielt. Schweigend fuhren wir durch die schlafende Stadt zum Bahnhof.
    Nachdem Papa unsere Fahrkarten gekauft hatte, trug er mich in die überfüllte Wartehalle. Ich zupfte ihn am Ohr und fragte: »Wohin fahren wir?«
    »Ich bring dich nach Hause.«
    »Aber wir sind doch zu Hause, Papa.«
    Er legte nur den Finger an die Lippen.
     
    Plötzlich wurde die Menge unruhig, und ich erschrak. Auf mehrere schrille Pfiffe folgten Befehle, jetzt zuzusteigen. Wir wurden von den vielen Menschen mitgerissen, die hektisch zum Bahnsteig drängten.
    Papa hielt mich fest an sich gedrückt. Als sich die Menschenmenge etwas lichtete, rannte er die Waggons entlang und spähte auf der Suche nach freien Plätzen durch die Fenster. Hinter mehreren überfüllten Wagen sprang er die Stufen eines Waggons hoch und stürmte auf einen einzelnen freien Platz zu. Eine Frau mit zwei großen Taschen in der einen Hand und einem Kind auf dem anderen Arm kam uns vom anderen Wagenende entgegen. Sie blieb mit den Taschen an einer Sitzlehne hängen und musste stehen bleiben. Papa ließ sich in den leeren Sitz sinken, von dem sie nur ein paar Schritte entfernt gewesen war. Unruhig blickte sie sich um. Von beiden Wagenenden drängten Menschen herein, sodass an Aussteigen nicht mehr zu denken war.
    Als Papa wieder zu Atem gekommen war, hievte er unsere Tasche auf die Ablage über unseren Köpfen. Dann setzte er sich wieder und nahm mich auf den Schoß. Die Frau neben uns hatte ein Kind im Arm, das etwa in meinem Alter war. Ein Mädchen mit rotem Gesicht und einer Rotznase, das mich aus tränenden Augen unverwandt ansah.
    Eine Kakophonie aus Rufen und Pfiffen ließ die Menschen auf dem Bahnsteig hektisch hin und her rennen. Die Waggons erzitterten, wurden knallend zusammengekuppelt. Wo Menschen in den Gängen standen, purzelten sie übereinander und suchten an den Griffen über sich oder an den Sitzlehnen Halt. Überall im Waggon wurden Proteste und Flüche laut. Doch als der Zug an Tempo gewann, verebbte das Gezeter der Fahrgäste zu einem leisen, stetigen Gebrummel.
    Der Zug hielt oft. Auf jedem Bahnhof drängten sich die Menschen. Viele waren Bauern auf dem Weg in die Stadt, wo sie ihre Waren auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollten. Sie umklammerten Körbe oder trugen Netze und Tierkäfige und zwängten sich an den Aussteigenden vorbei. Mit der Folge, dass die unglückseligen Fahrgäste, die in den Gängen stehen mussten, noch mehr zusammengequetscht wurden.
    Bei jedem Halt erfüllte der Gestank von Ruß, Tabak und Tieren die Luft. Menschen schrien, schimpften mit den Kindern und lamentierten, wenn sie übereinandersteigen mussten. Dazu Hühnergegacker und Schweinequieken. Vom Schoß meines Vaters aus beobachtete ich dieses chaotische Gemisch aus Markttreiben und Verdruss.
    Nach einiger Zeit erinnerte mich mein knurrender Magen daran, dass ich weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hatte. »Papa«, sagte ich, »ich habe Hunger.«
    Er griff in seine Tasche und zog eine alte, mit Schnur zusammengebundene Zeitungsseite heraus, in die zwei hart gekochte Eier eingewickelt waren. Eins gab er mir, das andere schob er wieder in die Tasche. Ich zog meine Fäustlinge aus, schälte das Ei und ließ die Schalen auf den Boden fallen. Neben mir ein Wimmern. Das Mädchen auf dem Schoß seiner Mutter streckte flehend die Arme nach meinem Ei aus. Ich hielt kurz inne, bevor ich hineinbiss. Das Mädchen brüllte. Etliche ausgemergelte Leute, die im Gang standen, betrachteten mich mit hungrigen Blicken.
    Ich hielt die Hände schützend um das Ei. Unterdessen flüsterte die Mutter dem Mädchen etwas ins Ohr, worauf es verstummte. Ich beschloss, doch nicht zu essen, sondern zu schlafen.
    Als ich wieder aufwachte, fiel mir auf, wie still es um mich war. Ich öffnete meine Hände … nichts! Kein Ei! Ich suchte auf dem Boden und fand nur Reste der Schale. Dann sah ich zu dem kleinen Mädchen hinüber. Es schlief. Und an seinem Kinn klebte ein ganz klein wenig Eigelb.
    Ich flüsterte Papa zu, dass ich immer noch Hunger hatte. Er gab mir das zweite Ei, das ich hastig schälte und verschlang.
    Dann bat ich Papa, mir die Puppe aus unserer Tasche zu geben. Ich erzählte ihr alles über unsere Reise: wie voll die Waggons waren und wie viel Hunger ich gehabt hatte. Sobald wir zu Hause wären, bekäme sie ein Ei, versprach ich ihr.
    »Magst du sie?«, fragte Papa.
    »Ja.«
    »Sie ist ein Geschenk von deiner Mama.«
    »Ist gar nicht wahr.«
    Papa

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