Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
wollte etwas hinzufügen, wandte sich dann aber ab und starrte schweigend aus dem Fenster.
Ich erinnerte mich daran, wie ich die Puppe vor ein paar Monaten bekommen hatte. Eine Frau mit einem kleinen Jungen war zu uns nach Hause gekommen. Sie hatte mit Großmama und Papa gesprochen. Eines Morgens hatte sie mich sehr früh mitgenommen, und wir waren mit der Eisenbahn zu einem Haus gefahren, in dem lauter gruselige Leute waren. Ich hatte geweint und mich hinter einer Bank versteckt und geschrien, dass ich nach Hause wollte.
Bevor die Frau mit dem Jungen wegging, hatte sie mir die Puppe gegeben und gesagt, es sei ein Geburtstagsgeschenk.
Tatsächlich war die Puppe kaum mehr als ein zusammengenähtes, mit Baumwolle ausgestopftes Lumpenbündel ohne Gesicht oder Kleidung. Aber Papa machte sie schön für mich. Er fand ein Plastikstück und schnitt es so zu, dass es vorne auf ihren Kopf passte. Darauf malte er schwarze Augen, rosige Wangen und rote Lippen. Ich sah ihm zu, wie er ihr Gesicht lebendig machte. Großmama nähte ihr ein Kleid und dazu passende Stoffschuhe und überreichte mir die nun fertige Puppe. Ich spielte so viel mit ihr, dass die Farbe von ihrem Gesicht abbröckelte.
Als ich sie nun untersuchte, entdeckte ich Sprünge in ihrem Gesicht und dass an einer Ecke die Naht aufgegangen war. Sobald wir zu Hause seien, versprach ich ihr, würde Papa ihr ein neues Gesicht machen.
Kapitel 2
U nsere Reise endete am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch. Die Stimme aus dem Lautsprecher verkündete, dass wir in Hefei eingetroffen waren.
»Jetzt bist du schon fast zu Hause, Maomao«, sagte Papa. Er nahm die Tasche von der Gepäckablage, drückte mich an sich und fragte: »Bist du bereit?«
»Ja«, antwortete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wofür ich bereit sein sollte, außer dass ich meine Großmama, meine Mama und meine Schwestern treffen würde.
Papa sagte mir, ich solle die Arme fest um seinen Hals legen. Dann bahnte er sich einen Weg aus dem Waggon und durch den Bahnhof hinaus auf die Straße.
Im frischen Winterwind spürte ich einen eisigen Zug an den Füßen. Plötzlich erinnerte ich mich, dass ich nachts die Schuhe ausgezogen hatte und zu Boden hatte fallen lassen. Und dort hatte ich sie vergessen.
Ich zupfte Papa am Kragen. »Meine Schuhe sind im Zug.«
»Was?«, fragte er ungläubig und schaute auf meine nackten Füße. Dann warf er einen Blick auf den überfüllten Bahnhof und seufzte: »Wir werden dir wohl neue besorgen müssen.« Und er öffnete einen Knopf an seiner Jacke, damit ich die Füße hineinstecken konnte und sie warm blieben.
Wir nahmen einen Bus und standen eine halbe Stunde im Gang, ehe wir in der Nähe einiger Häuser ausstiegen. Auf eins steuerten wir zu.
Papa las die Nummer über dem Eingang und sagte: »Deine Mama und dein Papa leben hier zusammen mit deinem Bruder. Und du wirst auch hier wohnen.«
Seine Worte verstörten mich. »Nein«, sagte ich. »Das ist nicht wahr. Ich weiß, wo Mama und Papa wohnen.«
»Lass uns zu ihnen reingehen«, erwiderte er.
»Ich will nach Hause«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Bring mich zu Großmama.«
»Hör zu, Maomao«, erklärte er, »nenn mich nicht mehr Papa. Ich bin nicht dein Papa. Ich bin dein Onkel.«
Verwirrt sah ich ihm in die Augen. Ich wartete darauf, dass er sagte, es sei nur ein Spiel.
»Du musst ab jetzt Onkel zu mir sagen.«
Tränen flossen mir übers Gesicht, und ich schlang die Arme ganz fest um seinen Hals. »Nein!«, schluchzte ich. »Gib mich nicht weg, Papa. Ich werde ein braves Mädchen sein. Ich werde nie mehr sagen, dass ich Hunger habe. Nein … nein … nein.«
Weinend klammerte ich mich an ihn. Er klopfte mir auf den Rücken. »Ist schon gut, Maomao. Ist schon gut.«
Papa trug mich die Treppe in den ersten Stock hinauf und klopfte an eine Tür. Gleich darauf wurde sie aufgerissen, und vor uns stand ein Junge. Papa nannte seinen Namen. Einen Augenblick später hörte man aufgeregte Schritte, und ein Mann und eine Frau erschienen an der Tür. Die Frau schnappte nach Luft. »Was für eine Überraschung!« Ich vergrub mein Gesicht im Mantel von Papa.
Sie streichelte meinen Arm. »Maomao, komm zu Mama.«
Sie klang nett. Der Mann neben ihr betrachtete mich durch dicke, schwarz geränderte Brillengläser. »Kleine Maomao, erinnerst du dich an mich?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich bin dein Papa«, sagte er.
Verwirrt und ängstlich betrachtete ich die zwei Erwachsenen und den Jungen.
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