Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
Vom Netzwerk:
gründlich putzte. »Das war ein Schnäppchen, und sie sind reich an Proteinen«, teilte er mir mit. »Gut für die Gesundheit. Kleine Dinge haben manchmal großen Wert.«
    »So wie die kleine Maomao?«, fragte ich.
    Er grinste und sagte: »Ich sehe, du hast mich verstanden. Ja, wie die kleine Maomao.«
    Beim Fischeputzen brachte er mir das Zählen bei und korrigierte meine Aussprache, damit ich meinen Akzent loswurde. Dabei legte er all die Fische auf den Tisch. Es waren etwas über vierhundert. Er reihte sie exakt neben- und übereinander auf, alle mit dem Kopf in derselben Richtung: zwanzig Reihen zu je zwanzig Stück, bis sie ein Quadrat ergaben. Das halbe Dutzend Fischlein, das übrig blieb, legte er unter das Viereck. Dann trat er zurück, betrachtete stolz sein Werk und meinte: »Wenn sie getrocknet sind, wird das ein Festmahl!«
    Tatsächlich trockneten sie schnell, doch es gab kein Festmahl. Als Papa die Fische vom Tisch nehmen wollte, stellte er fest, dass sie an der rot lackierten Tischoberfläche festklebten. Er zog sie ab, und jeder dieser Fischleiber hinterließ einen kleinen Abdruck auf der Platte. Es sah aus, als hätte ein kunstfertiger Handwerker ein kompliziertes Muster in den Tisch geritzt. Ein Schwarm von vierhundert winzigen Fischen – die alle in perfekt quadratischer Formation in dieselbe Richtung schwammen, mit ein paar Abweichlern untendrunter – bedeckte unseren Tisch wie makellose Fossilien in Schiefergestein. Wenn mein Bruder und ich mit den Fingerspitzen darüberfuhren, konnten wir spüren, wo die Fische getrocknet waren. Wir waren hingerissen, obwohl Papa die Fische erneut putzen und die Haut mit den Farbresten abschaben musste, sodass kaum noch Essbares übrig blieb. Mein Bruder und ich benutzten die Tischfläche als Labyrinth für verschiedene Spiele. Außerdem leistete sie uns gute Dienste beim Zählen und Rechnen. Mein Bruder verstand es auch, einen Teil des Musters als Schachbrett zu verwenden. So verdankten wir diesem Tisch unzählige Stunden des Spiels und der Zerstreuung. Der Spaß, den uns die Fische durch ihr Festkleben bereiteten, war weitaus größer als unser Genuss beim Verzehren ihrer kärglichen Überbleibsel.

Kapitel 5
    I m Sommer 1962 erhielt Papa die Erlaubnis, an der Anhui-Universität zu unterrichten. Er wurde wieder in die akademische Gemeinschaft aufgenommen, nachdem er unter anderem mit dreieinhalb Jahren Zwangsarbeit in einem Straflager Buße getan hatte. Man betraute ihn mit zwei Englischkursen, einem für Lektüre und einem für Aufsatzschreiben. Allerdings war er nun nicht mehr Professor wie früher in Peking, sondern nur ein befristeter Mitarbeiter, dessen Vertrag alle drei Monate verlängert werden musste. Denn er galt nach wie vor als politisch suspekt und trug immer noch zwei »Hüte« – das heißt, es hafteten ihm zwei Etiketten an: Für den Staat und die Universitätsleitung war er sowohl »Rechtsabweichler« als auch »ein Element in Umerziehung«. Mit 60  Yuan monatlich verdiente er nicht einmal ein Drittel seines früheren Gehalts. Und zusätzliche Leistungen wie medizinische Versorgung oder Zugang zur Universitätsapotheke blieben ihm versagt.
    In diesem Herbst wurde ich im Kinderbetreuungszentrum und mein Bruder für die erste Klasse der Meishanlu-Grundschule angemeldet. Kurz vor Beginn des Schuljahres zog Papas Stiefmutter bei uns ein, die auch schon in Peking bei Mama und Papa gewohnt hatte. Mein Bruder und ich teilten unser kleines Schlafzimmer mit ihr.
    Papa hielt wundervolle Vorlesungen. Zu seinen Lehrveranstaltungen kamen sogar Studenten und Dozenten von den benachbarten Hochschulen. Sein Vorlesungssaal war stets im Nu gefüllt, und sogar draußen im Gang drängten sich wissbegierige Zuhörer. Andere versammelten sich vor den Fenstern. Manche teilten ihm auf Zetteln mit, wie begeistert sie von seinen Vorlesungen seien und dass er ihnen die Augen für die Wunder der Literatur geöffnet habe. Papa vernichtete diese Zettel und schärfte den Studenten ein, ihm nie wieder zu schreiben: Sonst konnten sie alle in Schwierigkeiten geraten.
    Bereits nach wenigen Wochen führten Eifersüchteleien innerhalb der Fakultät dazu, dass Papa seine Kurse nur noch unter Auflagen abhalten durfte. Lediglich Dozenten und Studierende der Anhui-Universität durften sie besuchen. Einige jüngere Dozenten wurden angewiesen, den politischen Inhalt seiner Ausführungen zu prüfen und alles, was er sagte, genauestens festzuhalten.
    Mama erfüllte Papas

Weitere Kostenlose Bücher