Feenland
Übereinkunft, daß sie die
Presse aus dem Spiel lassen. Als Morag sich erkundigt, was die
Polizei wegen des kleinen Jungen zu unternehmen gedenkt, fängt
Dr. Science erneut mit seiner Dampfplauderei an, und Jules wendet
sich angewidert ab.
»Wir müssen uns mit der Polizei gut stellen«, sagt
Dr. Science. »Wir können den Leuten nicht vorschreiben, was
sie zu tun haben…« – er senkt die Stimme und legt
Morag eine Hand auf die Schulter –, »selbst wenn wir
wissen, daß sie uns Knüppel in den Weg werfen. So ist das
nun mal. Das Wohl der Mehrheit steht gegen das Wohl des
einzelnen.«
Morag schüttelt seine Hand ab. Ihrer Meinung nach ist Dr.
Science ein verlogener Phrasendrescher. Vielleicht war sein Charme,
der Honig, den er den Leuten ums Maul schmierte, früher mal Teil
seines effektiven Handelns, aber inzwischen ist nur noch die Schau
geblieben. Dennoch verspricht sie, den Mund zu halten, und Jules tut
das gleiche. Sie haben kaum eine andere Wahl.
Morag schläft schlecht in dieser Nacht, fühlt sich
jedoch besser, nachdem sie ihrer Mitbewohnerin Nina bei einem echt
französischen Essen – es gibt Boeuf gros sel mit
Lauch und Navets, dazu eine Karaffe mit rotem Landwein –
einen Großteil der schrecklichen Geschichte erzählt hat.
Die Wiederholung schwächt das Entsetzen ein wenig ab, und die
Bidonvilles rücken in weite Ferne, während sie in dem
vertrauten kleinen Lokal sitzen, wo Nina ihre eigene Serviette in
einem Regal mit kleinen Fächern hat, wo die Unterhaltung von den
anderen Tischen her eine fröhliche Geräuschkulisse à la cantonnade bildet und Raymonde, eine dicke Frau
mit sehr langem, sehr blondem Haar, das Essen bringt.
Nina hört sehr aufmerksam und voller Mitgefühl zu. Sie
ist ärztliche Assistentin am Hôpital Saint-Louis und hat
die Gabe, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren und genau das
Richtige zu sagen. Als Morag ihr die Szene mit den Sicherheitsleuten
schildert, zündet Nina den Zigarillo, der ihre Mahlzeit
beschließt, mit einem typischen Schnippen ihres Feuerzeugs an
und schlägt Morag vor, die Mistkerle zu verklagen. Nina ist eine
kleine, kratzbürstige Frau, die einen Schlußstrich unter
eine leidvolle Ehe gezogen hat und nun, wie sie es ausdrückt,
gegen einen finanziellen Engpaß ankämpft. Sie ist doppelt
so alt wie Morag und zehnmal so schick, ein schmales Geschöpf in
einem blauen Etuikleid und jeder Menge Schmuck. Das vom Fenster her
einfallende Licht wirft einen goldenen Schimmer auf ihr aschblondes
Haar. Sie beugt sich vor und sagt: »Ich kenne einen guten
Anwalt, wenn du so was brauchst.«
»Es geht nicht darum, wie sie mich behandelten, sondern
darum, wie gleichgültig ihnen das Schicksal des kleinen Jungen
war.«
»Du machst dir Sorgen um ihn, nicht wahr?«
»Irgendwie schaffe ich es nicht, meine Gefühle
auszuschalten. Ich versuche es manchmal, weil es das Handeln
erleichtert, aber dann frage ich mich wieder: Was bist du nur
für ein Mensch?«
»Er ist vermutlich tot, oder?«
»Ich befürchte es. Aber das ist nicht das
Kernproblem.«
»Natürlich nicht. Das Kernproblem ist, wie man so etwas
in Zukunft verhindern kann. Willst du die Presse
einschalten?«
»Der Fall würde einen Tag lang Schlagzeilen machen
– wenn sie ihn überhaupt veröffentlichen. Das
Interface ist politischer Zündstoff, nicht wahr?«
»Ja – aber es geht nicht um französische, sondern
um europäische Politik.«
»Sicher. Ich wollte ganz bestimmt nicht…«
»Was kann schlimmstenfalls passieren, wenn du dich an die
Presse wendest?«
»Ich würde meinen Job verlieren. Doch darum geht es
nicht.«
»Vielleicht solltest du ein paar Tage freinehmen und
ausspannen, Liebes. Fahr in die Normandie. Wir haben dort ein
Ferienhaus, in dem du wohnen kannst. Kazimir und ich benutzten es,
weiß Gott, viel zu selten, als wir noch verheiratet waren, und
seit die Kinder erwachsen sind, wollen sie auch nicht mehr hin. Geh
am Strand spazieren, sieh zu, daß du den Großstadtdreck
aus den Lungen kriegst, und genieße das kräftige Essen auf
dem Land. Dann kannst du immer noch eine Entscheidung
treffen.«
Morag erklärt Nina, daß sie darüber nachdenken
wird, daß sie heute nacht aber unbedingt mit dem Team
ausrücken muß.
»Andernfalls schaffe ich es nie mehr, an einem Einsatz
teilzunehmen.«
»Gut, wie du meinst. Aber es ist dein zweites schlimmes
Erlebnis in weniger als einem Jahr.«
»Ach das, das ist nicht so schlimm. Nicht so schlimm wie die
Lager, und auch das habe ich einigermaßen
Weitere Kostenlose Bücher