Feenland
um
sich die Arbeit zu erleichtern, aber sie weiß nicht, wie sie
ihm das sagen soll, ohne undankbar zu erscheinen.
»Ich soll also ab jetzt in der Klinik arbeiten
und…«
»Ich erinnere mich, daß ich Sie dort einführte,
kurz nachdem Sie zu unserem Team stießen. Ich weiß,
daß Sie Ihre Sache gut machen werden, denn ich habe Sie bei der
Arbeit beobachtet. Ich muß Sie nicht untersuchen lassen, oder?
Nein, ich bin sicher, daß das nicht nötig ist. Finden Sie
sich kurz vor Mitternacht dort ein, weil danach die Eingänge
versperrt werden. Und Sie wissen, daß ich jederzeit für
Sie da bin!« fügt Dr. Science mit seinem gönnerhaften
Lächeln hinzu. Dann verschwindet er zwischen den Fahrzeugen, die
zum Aufladen bereitstehen, und seine Stimme bricht sich in Echos
unter dem hohen Dach, als er Gisele ein paar Worte zuruft.
Morag kehrt in ihr Apartment zurück und schläft bis zum
frühen Abend, ehe sie von Alpträumen erwacht, an die sie
sich nicht erinnern kann. Sie nimmt ein ausgedehntes Bad und
wäscht sich die Haare. In ihren Morgenmantel gehüllt und
das nasse Haar in ein Handtuch gewickelt, schlendert sie in den
Wohnraum, und das Apartment erkundigt sich, ob sie zufrieden ist. Sie
wohnt jetzt seit fast einem Monat hier, lange genug für das
Expertensystem, um ihre Körpersprache zu interpretieren. Als sie
versichert, daß alles bestens ist, schlägt es eine Tasse
Tee vor.
»Meinetwegen.«
Ninas Mikrosaurier patscht über die Fliesen und schmiegt sich
an ihre Knöchel. Es ist ein Stegosaurier, nicht
größer als eine Katze, mit weißem Fell über dem
dicken Bauch und schwarzem Fell auf den rautenförmigen
Panzerplatten des Rückens. Morag kitzelt ihn unter dem winzigen
Kopf, und er summt vor Vergnügen.
»Ich helfe gern«, sagt das Apartment.
Morag fragt sich, ob das Apartment eifersüchtig auf den
Mikrosaurier ist. »Das ist auch mein Problem«, erklärt
sie.
Das Apartment gibt einen schwachen Piepton von sich, ein Zeichen
dafür, daß ihre Antwort die Kapazität seines
Expertensystems überfordert hat.
»Mach mir einfach eine Tasse Tee«, sagt Morag.
»Gern. Es ist übrigens eine Nachricht auf dem
Anrufbeantworter.«
Morag schaltet das Gerät ein. Ein dicker Mann sagt in
Englisch: »Dr. Gray? Ich würde Sie gern sprechen. Rufen Sie
mich bitte zurück!«
Morag dreht den Ton weg, als er sich anschickt, seine Nummer
durchzugeben. Obwohl Dr. Science behauptet hat, daß die Medien
von dem Fall ferngehalten werden, wird Morag das Gefühl nicht
los, daß der Dicke ein Klatschreporter ist. Aber wenn sie den
Mord und seine Vertuschung öffentlich anprangern wollte,
wäre dann nicht die englische Sensationspresse genau das
Richtige, um den Skandal breitzutreten? Die Versuchung ist
groß, besonders jetzt, da Dr. Science sie mit emotionaler
Erpressung mundtot zu machen versucht – aber noch kann sie sich
zu diesem Schritt nicht entschließen. Sie hätte gern mit
ihrer Zimmergenossin über die Angelegenheit gesprochen, aber
Nina hat Nachtschicht im Krankenhaus, und es geht gegen Morags
Berufsethos, sie wegen eines privaten Problems zu stören.
Morag hält die Tasse mit dem allmählich abkühlenden
Tee in beiden Händen fest, während sie an der
Schiebetür des winzigen Balkons steht und nach draußen
starrt. Die Lichter der Straßenlaternen, die wie
Perlenschnüre über dem Mosaik der abendlichen Stadt liegen,
verlieren sich in Richtung der flutlichthellen, dichtgedrängten
Türme von La Defense. Ihre Wohnung befindet sich im zwanzigsten
Arrondissement, Belleville-Ménilmontant; hier bilden
Mietblöcke, in denen verarmte, entwurzelte
Mittelklasse-Intellektuelle und Studenten der Pariser
Universität leben, einen dichten Ring um unsanierte,
ländliche Straßen, in denen Künstler und
Subkultur-Freaks eine Bleibe gefunden haben.
Morag liebt die schäbige Eleganz des Arrondissements, in dem
nichts auf die Jahrtausendwende oder die Flucht der
Stadtbevölkerung in die Rand-Arkologien hindeutet. Es gibt
stille Straßencafés, traditionelle Boulangeries mit Lettern im Stil des frühen 20. Jahrhunderts über
den blitzblanken Schaufenstern, das altmodische Kino, wo Besucher
Zettel mit ihren Wunschfilmen in einen Kasten neben der Kasse werfen,
eine chinesische Kneipe, in der Nina und ihre Kollegen vom
Krankenhaus sonntags Dimsum bestellen. Morag lebt noch nicht lange
hier, aber sie bekommt allmählich das Gefühl, daß sie
ein Plätzchen gefunden hat, an dem sie glücklich sein
könnte.
Nein, denkt sie, niemand
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