Feentod
hinterherrief.
Im Gegensatz zu Alina, deren Eltern eine Wohnung direkt in der Innenstadt besaÃen, wohnte Noraya in einem kleinen Vorort im Westen der Stadt. Das Reihenhaus lag so weit auÃerhalb, dass es praktisch unmöglich war, von hier aus abends noch in die Stadt zu kommen. Aber das war für Noraya sowieso selten ein Thema. Daheim angekommen, kramte sie ihren Schlüsselbund aus der Handtasche. Schon beim Eintreten nahm ihr Vater sie in Empfang.
2.
W o bist du denn gewesen?«, fragte Herr Al Ibi umgehend, als sein Blick auf die zwei Einkaufstüten fiel.
»Mit Alina shoppen.« Noraya gab sich keine Mühe, den genervten Ton in ihrer Stimme zu verbergen.
»Man wird doch wohl noch fragen dürfen«, schoss ihr Vater zurück und Noraya verkniff sich jedes weitere Wort. Nicht, dass Papa auch noch wissen wollte, wo sie zum Shoppen gewesen war. Frankfurt am Main war für ihn ein Synonym für Drogen, Mädchenhändler und Schwerverbrecher. Und seine 16-jährige Tochter hatte dort seiner Meinung nach rein gar nichts verloren.
Auf dem Bett, über das eine blaue Tagesdecke geworfen war, breitete Noraya ihre neusten Schätze aus. Beim Anblick der schwarzen Hose und des halb transparenten grün gemusterten Oberteils spürte sie ein heiÃes Stechen direkt in der Magengegend. Oh Gott, stöhnte sie. Wenn ich mich bei jeder Kleinigkeit so aufrege, bin ich Ende dieser Woche ein nervliches Wrack. Dieses Mal hatte der bloÃe Anblick des Outfits genügt, das sie zu ihrem groÃen Auftritt anziehen würde. Alina hatte die Klamotten zielsicher ausgesucht. Und wie immer hatte sie die perfekte Wahl getroffen. Alina war einfach die beste Shoppingbegleitung, die man sich vorstellen konnte. Und dazu hatte sie auch noch einen absoluten Riecher für Schnäppchen, was bei Norayas mickrigem Taschengeld auch nötig war. Schnell packte Noraya die neuen Errungenschaften in den Kleiderschrank. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um den groÃen Auftritt. Was, wenn mir die Stimme versagt? Oder ich meinen Einsatz verpasse? Als sie sich haarklein ausmalte, wie sie vor aller Augen über den Bühnenrand stolperte, verlieà sie schnurstracks ihr Zimmer, setzte sich unten im Wohnzimmer ans Klavier und begann zu üben. Das beste Mittel gegen Lampenfieber sei üben, üben und nochmals üben, wie ihre Gesangslehrerin Korinna immer sagte. Und tatsächlich. Schon während der Atemübungen spürte Noraya, wie sich ihr Puls normalisierte, und nach über einer Stunde intensiven Ãbens fühlte sie sich so unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Ihr kam das jedes Mal wie Zauberei vor. Als würden sich die gesungenen Töne in ihre Körperzellen einnisten und dort die Prozesse, die durch die Aufregung in Gang gesetzt worden waren, stoppen.
Später, beim gemeinsamen Abendessen, auf das Norayas Vater immer bestand, berichtete sie von dem Vorfall mit den zwei besoffenen Typen. Dabei vermied sie tunlichst zu erwähnen, dass sich die unschöne Geschichte in der S-Bahn zugetragen hatte.
»Hat die Frau geweint?«, wollte Helia wissen. Noraya nickte ihrer kleinen Schwester zu.
»Sie hatte total Panik. Die Typen waren ja betrunken und voll aggressiv. Erst dieser mutige Mann hat sich getraut, etwas zu sagen.«
»Da sieht man wieder einmal, was Alkohol aus einem Menschen machen kann«, setzte Norayas Vater zu einer Belehrung an und die Schwestern warfen sich vielsagende Blicke zu. Denn auch hier war ihr Vater strenger als andere Väter. Ging es nach ihm, würden junge Menschen erst mit einundzwanzig Jahren den ersten Tropfen Alkohol trinken. Seine Ãberzeugung ging so weit, dass er manchmal sogar fremde Jugendliche maÃregelte, wenn er sah, dass sie Bierflaschen mit sich trugen. Noraya fand das jedes Mal oberpeinlich.
»Wann hast du eigentlich Gesangsstunde?«, wechselte ihre Mutter das Thema.
»Montagabend. Dieses Mal machen wir eine Doppelstunde«, antwortete Noraya.
»In Ordnung.« Frau Al Ibi lächelte ihre Tochter verschmitzt an. Denn in Wirklichkeit bedeutete das Stichwort »Doppelstunde« etwas anderes. Es bildete sozusagen den Code für »Bandprobe«. Ihr Vater hatte keinen Schimmer, dass Noraya ihre Gesangskünste nicht nur im Unterricht und bei gelegentlichen kleinen Konzerten erprobte, sondern seit über einem Jahr auch in einer richtigen Band sang. Niemals hätte Herr Al Ibi das
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