Feentod
lautlos mit den Lippen. Noraya sah auch in Alinas Augen die Angst. Die Frau auf dem Nachbarsitz zog das zweite Kind zu sich herüber auf den SchoÃ. Es begann zu weinen.
»So ein beknacktes Kopftuch ist doch was für Omas«, pöbelten die Typen weiter und der kleinere riss der jungen Frau das Tuch herunter.
»Lassen Sie das bitte«, ertönte die Stimme der Bedrängten.
Noraya konnte deutlich ihre Panik hören. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was werden die Typen als Nächstes tun? Die Frau schlagen? Oder ein Messer ziehen? Man muss die Polizei verständigen, entschied sie, zückte ihr Handy und tippte die 110.
»Nora!«, zischte Alina. »Das bringt doch nix.«
Noraya hielt inne und räusperte sich. Ihr Mund fühlte sich an wie ein Staubtuch. Sie suchte nach Worten, die sie den Typen entgegenschreien konnte. Aber die Angst verschloss nicht nur ihren Mund, sie hatte auch ihr Denken lahmgelegt. Als ein älterer Herr über die Köpfe der anderen Fahrgäste hinwegbrüllte, zuckte sie zusammen.
»Wird nun endlich einer von den starken Herren hier im Waggon aufstehen und der Dame einen Platz anbieten? Die Polizei ist informiert. Beim nächsten Halt sind die Burschen fällig!«
Noraya hielt die Luft an. Im Abteil war es mucksmäuschenstill geworden. Noraya betete, dass sein Eingreifen die Schläger nicht noch mehr anstachelte.
»Kommen Sie«, meldete sich nach einer gefühlten Ewigkeit ein kräftiger Typ zu Wort und winkte die junge Frau zu sich heran.
»Vielen, vielen Dank«, schluchzte sie und stolperte, das zinnfarbene Kopftuch fest umklammert, ihrem Retter entgegen. Ihr langer, schwarz glänzender Zopf fiel schwer über ihre rechte Schulter. Als sie an ihrem Platz vorbeiging, konnte Noraya das tränenüberströmtes Gesicht der Frau erkennen. Sie spürte, wie auch ihre eigenen Lippen leicht zitterten.
Die S-Bahn bremste und Noraya stellte erleichtert fest, dass die zwei Typen sich an die Tür gelehnt hatten und den anderen Fahrgästen keine Beachtung mehr schenkten. Nur beim Aussteigen rief der kleine Dicke noch einmal laut in den Wagen hinein: »Tschüss, du eingebildete Puppe, bis zum nächsten Treffen!«
»Boa, sind das Arschlöcher!« Alina hatte als Erste ihre Sprache wiedergefunden. Während die S-Bahn anfuhr, sah Noraya mit groÃen Augen den Kerlen hinterher, die jetzt auf dem Bahnsteig standen und rauchten.
»Ich verstehe aber ehrlich gesagt nicht, warum so eine junge Frau wie die ein Kopftuch anzieht. Sieht erstens doof aus und damit macht die sich auch automatisch zur Zielscheibe für solche Idioten.« Alina fuhr sich mit der Hand durch die Haare und lockerte sie auf.
»Wenn meine Mutter keine Deutsche wäre, dann müsste ich auch mit Kopftuch rumrennen«, gab Noraya zu bedenken.
»Das wäre ja das Letzte!«, wetterte Alina los. »Reicht eh schon, wie dein Vater dich immerzu gängelt. Der tut ja grad so, als ob du noch ein Kleinkind bist.« Alina konnte sich andauernd über Norayas Vater aufregen und fand es äuÃerst gemein, dass die Freundin am Wochenende fast nie mit ihr ausgehen, geschweige denn bei ihr übernachten durfte. Noraya war es sogar verboten, sich bei Facebook oder irgendeinem anderen sozialen Netzwerk anzumelden, und ein Handy hatte sie sich erst vor einem Jahr kaufen dürfen. Vom eigenen Ersparten.
»Und du nimmst das auch noch so hin. Ich würde meinem Alten viel mehr Kontra geben«, fuhr Alina fort.
»Bei dir ist das doch was ganz anderes. Deine Eltern sind beide Deutsche. Mein Vater stammt aus einem ganz anderen Kulturkreis. In Tunesien müssen die Väter besonders auf die Ehre ihrer unverheirateten Töchter achten. Das habe ich dir aber schon tausendmal erklärt, Alina«, entgegnete Noraya lustlos. »Immer wieder führen wir diese blöden Diskussionen. Das bringst doch nichts«, beendete sie das Thema, während sie am Hauptbahnhof ausstiegen.
Die junge Frau mit dem Kopftuch verlieà mit ihnen die S-Bahn. Sie wirkte immer noch ziemlich verstört und auch Noraya saà der Schreck von eben noch in den Gliedern. Was, fragte sie sich, wäre passiert, wenn niemand eingegriffen hätte?
»Da vorne kommt dein Bus«, riss Alina sie aus ihren Gedanken. Hastig verabschiedete sich Noraya von der Freundin, die ihr einen Kuss auf die Wange drückte und ihr ein »Bis Montag«
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