Fehlt noch ein Baum
Freunde, die mir diese Neuigkeit überbrachten, schauten mich betroffen an und wussten nicht, wie sie es mir beibringen sollten.
Damit ich vor Lachen keine Fehlgeburt bekam, musste ich mich hinsetzen.
»Ira, beruhige dich, wir verstehen, wie traurig das für dich ist!«
»Hm â¦Â«
»Aber es geht ihm schon besser, er ist im Krankenhaus.«
»Wie hat er sich denn das Bein gebrochen?«
»Wie schon? Ira, du wirst es natürlich nicht glauben ⦠Wir sind in den Wald gefahren, haben ein bisschen getrunken. Er ging ins Gebüsch auf Toilette, stolperte über eine Wurzel â und zack, doppelter Bruch.«
»Habt ihr nicht gesagt, es sei ein dreifacher Bruch?«
Tatsächlich war das Bein zunächst an zwei Stellen gebrochen. Aber als seine Freunde Veras Vater zum Auto trugen, lieÃen sie ihn einige Male fallen, deswegen brach das Bein an einer weiteren Stelle.
Auf meine Fragen nach Details des Geschehens murmelten sie etwas Unverständliches. Angeblich ging er, rutschte aus, fiel hin, verlor das Bewusstsein, kam zu sich und â Gips.
Irgendwie ist das langweilig ⦠Genauso hätte ich über meine Schwangerschaft sprechen können: Angeblich wurde ich trächtig, ging neun Monate schwanger, entband, wurde bewusstlos, kam wieder zu mir und â Gips. Und der Gips weinte und sabberte â¦
Veras Vater lieà mir von seinen Freunden einen Apfel bringen. Wahrscheinlich als Symbol der Fertilität und als Frucht, derentwegen die Urmutter Eva in Schmerzen gebar. Dafür schickte ich ihm eine Birne, als Symbol der Volksmedizin und der Liebe Christi zur gesamten Menschheit.
AuÃerdem flehte ich Veras Vater in einem Brief an, den dreifachen Bruch nicht eingipsen zu lassen, sondern sich auch das rechte Bein an drei Stellen zu brechen und an den Bruchstellen Scharniere einsetzen zu lassen. Damit hätte er im Zirkus mit der Nummer »Der Marionetten-Mann« auftreten können.
Da die Akkus unserer Mobiltelefone leer waren, schrieben wir uns kleine Zettel.
Es war sehr romantisch. Dann jedoch ergriff Veras Vater in der zweiten Woche des Gewahrsams schmachvoll die Flucht. Er war nicht mal so schlau gewesen, sich einen Rollstuhl mitzunehmen.
Das wäre doch so toll gewesen. Ich, die Schwangere, schiebe einen Rollstuhl mit dem gestrengen und wehrhaften Internationalisten vor mir her (eine Uniform hätte man in jedem Militaria-Laden kaufen können). Ich denke, in der Metro und in den Vorortzügen hätte unsere Kasse geklingelt.
So lebte ich fast bis Neujahr im Krankenhaus. Dann endlich gaben die Ãrzte auf und lieÃen mich nach Hause.
Es ist seltsam, aber die zu Weihnachten üblichen Rabatte sind nicht auf die Schmiergelder der Ãrzte anwendbar.
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1. September 2003
Unser erster Eintrag in das Untersuchungsheft
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Vera und ich waren heute zum ersten Mal beim Neuropathologen zu einer Routineuntersuchung. Nach meiner Ansicht müssten erst die Mütter der Neugeborenen zum Neuropathologen geschickt werden und dann die Kinder.
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7. September 2003
Die Milch der geliebten Frau
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Veras geliebte Frau bin derzeit ich. Aber bekommen Sie keinen falschen Eindruck. Das hindert sie nicht daran, mir während des Stillens nette kleine Zickzacklinien auf die Brust zu kratzen. Und seit gestern greift Vera noch kräftiger mit beiden Händen nach meiner Brust, anscheinend will sie sich nicht auf ihren Mund verlassen.
Somit habe ich praktisch nach jedem Stillen Body-Art auf meinem Busen.
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8. September 2003
Die Uhr
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Interessanterweise sind meine Brust und Veras Kopf geradezu gleich groÃ. Wenn sie saugt, dann sieht beides zusammen aus wie eine Art Sanduhr. Oder eine liegende Acht â das Zeichen für die Unendlichkeit.
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9. September 2003
Wie wir Vera wuschen
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»Hast du Apfelsinen geholt?«
»Mama, wo soll ich denn nachts Apfelsinen für dich herkriegen?«
»Und womit soll ich die Stachelbeerkonfitüre kochen? Na gut, dann nehme ich eben Knoblauch statt Apfelsinen und koche ein Chutney.«
»Mama, eigentlich müssen wir Vera baden.«
»Und die Stachelbeeren? Frag deine Schwester, immer ich.«
»Anja, du wirst mir heute assistieren. Gleich werde ich Vera baden.«
»Wozu, Ira? Sie riecht doch noch gar nicht.«
»Komm schon, ich habe alles vorbereitet. Wir machen es so: Ich hole Vera und du überprüfst mit dem Thermometer das Wasser. Gut? Hast du?«
»Ja, es
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